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23.10.2017
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Zürich

45. Economic Conference

Freiheit und Toleranz – Chancen und Gefahren durch neue Technologien

Christopher A. Preble

«Zero Tolerance or Zero Thought? How Our Obsession with Safety Threatens Individual Liberty»

Martin Killias

«Immer weniger Freiheit? Einspruch gegen eine unhistorische Sichtweise»

Unsere 45. Wirtschaftskonferenz konzentrierte sich auf Überwachungsmethoden unter Einsatz neuer Technologien. Die beiden Referenten Christopher A. Preble und Martin Killias boten anregende Kost. Preble warnte vor einer Überreaktion der Gesellschaft angesichts möglicher terroristischer Bedrohungen. Killias nutzte einen rechtshistorischen Ansatz, um die Ansicht zu relativieren, dass die heutigen Vorschriften und Überwachungen uns weniger frei machen als je zuvor.

 

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Bei Nulltoleranz liegt die Vernunft nahe null
Thomas Fuster, NZZ, 24.10.2017
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Gefährliche Technologien – gefährliche Überreaktionen
Gerhard Schwarz, NZZ, 24.10.2017
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Total Data – Total Control
01.12.2017

Referat von Christopher A. Preble

Vizepräsident für Verteidigung und aussenpolitische Studien am Cato-Institut

Hier finden sie die Folien des Referats:

Folien

Referat von Martin Killias

Schweizer Strafrechtler

Nach einer weit verbreiteten Meinung wird unsere Freiheit immer stärker durch inflationäre Vorschriften, immer perfektere technische Vorrichtungen und vor allem durch immer umfassendere Überwachungsmassnahmen eingeschränkt. Diese Sichtweise ist unhistorisch. Sie vernachlässigt, dass dieselben Innovationen viele «Freiheiten» erst haben entstehen lassen.

Man kann sich die Entwicklung der menschlichen Existenzbedingungen als eine Abfolge immer neuer Möglichkeiten vorstellen, die sogleich wieder durch neue Regelungen und Massnahmen kontrolliert werden müssen. Mit dem Papier entstand die Möglichkeit, wichtige Absprachen schriftlich zu fixieren – aber auch solche Urkunden nachträglich zu verfälschen oder überhaupt völlige Fälschungen zu produzieren. Mit dem Aufkommen einer Marktwirtschaft im Hochmittelalter ergab sich die Möglichkeit, andere zu täuschen und damit sich illegitim zu bereichern – dies führte zu Gesetzen gegen den Betrug und zu neuen Massnahmen, ihm entgegenzuwirken. Mit dem Aufkommen einer transkontinentalen Handelstätigkeit zeigte sich die Gefahr, dass anvertraute Güter – etwa das einem Kapitän übergebene «Reisegeld» – zweckentfremdet, also veruntreut wurden. Damit war wieder ein neuer Tatbestand geboren. Mit der Intensivierung des Verkehrs mit Pferdekutschen ab 1700, vor allem aber seit der Erfindung des Autos gab es einen gewaltigen Regelungsschub im Strassenverkehr. Als dann die Autos immer schneller fuhren und die Risiken zunahmen, kam der Ruf nach Geschwindigkeitsbegrenzungen und zahlreichen weiteren Vorschriften. Jede neue technische, soziale oder wirtschaftliche Innovation ruft damit neuen Regelungen. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einer Limitierung der «Gesetzesflut» absurd. Würde etwa die jährliche Gesetzesproduktion seitenmässig begrenzt, dann würden die Vorschriften zwangsläufig zwar kürzer, aber auch allgemeiner und daher noch mehr ergänzungsbedürftig durch nachgeordnete Regelungen auf der Stufe von Verordnungen, Reglementen und allen möglichen Richtlinien wie etwa Compliance-Regelwerken. Im Übrigen hängt die Leichtigkeit in der Handhabung des Rechts nicht von der Anzahl der Regelungen ab, sondern von der Einfachheit und guten Systematik der Gesetzessammlung. Ich wage die Behauptung, dass die Orientierung über die Rechtslage in irgendeinem Lebensbereich heute viel einfacher ist als im 18. Jahrhundert.

Auf neue Risiken reagieren Gesellschaften aber nicht nur mit neuen Regelungen, sondern auch mit neuen situativen Präventionsmassnahmen. Dazu gehören zahlreiche technische Massnahmen, die im Interesse der Sicherheit getroffen werden. So werden etwa Anlagen, Maschinen, Autos und die meisten Produkte des täglichen Konsums normiert, wozu wiederum Sicherheitsvorschriften erforderlich sind. Solche Präventivmassnahmen – etwa über die Beschaffenheit und den Unterhalt von Fahrzeugen – sind weitaus wirksamer als reine Strafbestimmungen – selbst solche mit drastischen Strafandrohungen – gegen das Fahren mit gefährlichen Autos. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass solche situativen Massnahmen nur akzeptiert werden, wenn sie an einen normativen Konsens anknüpfen können. Es wäre beispielsweise unvorstellbar, durch technische Vorkehren dafür zu sorgen, dass Fahrzeuge eine bestimmte Geschwindigkeit nicht überschreiten können, solange die Idee von Geschwindigkeitslimiten sozial nicht akzeptiert ist. Situative Massnahmen ersetzen daher Normen nicht, sondern erleichtern ihre Um- und Durchsetzung, indem sie Straftaten ab ovo verunmöglichen und damit das Verhängen von Sanktionen erübrigen. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang, dass man unter präventiven Massnahmen nicht nur solche versteht, die riskantes oder gar schädigendes Verhalten erschweren. Ebenso wichtig sind positive Anreize, welche die Betroffenen in die erwünschte Richtung lenken. Ein einfaches Beispiel wäre etwa das System «Robidogs», das die Verschmutzung der Trottoirs durch Hundekot innert kurzer Zeit und nahezu weltweit eliminiert hat. Ein weniger banales Beispiel wäre die Schaffung einer leistungsfähigen und bürgerfreundlichen Verwaltung, die benötigte Dienstleistungen zeitgerecht und ohne «Trinkgelder» erbringt und daher Korruption überflüssig macht. Dass die Kriminalität seit dem zweiten Weltkrieg in der ganzen westlichen Welt stark zunahm und in den letzten Jahren wieder zurückgegangen ist, war die Folge von zunächst immer mehr kriminellen Gelegenheiten – und vermehrten Sicherheitsanstrengungen in einer Vielzahl von Bereichen seit rund zwanzig Jahren. «9/11» war auch in diesem Sinne ein Wendepunkt.

Wie steht es nun mit unserer «Freiheit»? Ich denke, bedroht ist diese nicht allein, wenn VideoKameras unser Verhalten im öffentlichen Raum aufzeichnen, sondern ebenso sehr, wenn unsere räumlich-zeitliche Mobilität durch Risiken im öffentlichen Raum eingeschränkt wird. Wenn man etwa ein Fahrrad nirgendwo abstellen kann, ohne dieses mit einem wirksamen Schloss abzuschliessen, dann stört mich dies mehr als nur die Kamera, die den fraglichen Abschnitt des Trottoirs überwacht. Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit.

Wie unhistorisch die Betrachtungsweise ist, in den zunehmenden Sicherheitsinvestitionen eine Bedrohung der Freiheit zu sehen, zeigt sich bei einem Rückblick auf gar nicht so lange vergangene Zeiten. Die Menschen in den Erzählungen Gotthelfs und seiner Zeitgenossen verfügten über unvorstellbar wenig Freiräume. Vom Tagesanbruch bis zum Einbruch der Nacht waren die meisten in Stall- und Feldarbeit eingespannt, ständig unter Kontrolle anderer. Nur wenige Male im Jahr war diese Eintönigkeit unterbrochen durch Kirchweih- und andere Festgelegenheiten, bei welchem junge Leute beiderlei Geschlechts miteinander relativ unkompliziert in Kontakt treten konnten. Bei solchen Gelegenheiten entstanden jeweils aussereheliche Kinder oder «Muss»-Ehen, wobei das Eingehen einer solchen nur für relativ Wohlhabende in Frage kam. Über fünfzig Prozent der Leute, die das Erwachsenenalter erreichten, blieben gezwungenermassen ehelos. Dass sexuelle Übergriffe damals quasi an der Tagesordnung gewesen wären, ist eine nachträgliche Projektion, war doch der Tagesablauf sehr stark kontrolliert. Was häufig vorkam (und zu zahllosen Hinrichtungen unter dem Ancien régime führte), war dagegen Sex mit Tieren. Kurz: die gewöhnlichen Menschen hatten ein ziemlich eintöniges, erbärmliches Leben ohne Entfaltungsmöglichkeiten und Freiräume. Die Attraktivität der fremden Dienste – in Frankreich, den Niederlanden und besonders im Königreich beider Sizilien – muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden, denn dort gab es – wohl auch in sexueller Hinsicht – hin und wieder etwas zu erleben. Das Aargauer Lied (im Argöi sy zwöi Liebi) und s’Vreneli abem Guggisbärg schildern diese Thematik eindrücklich. Gewiss spielten materielle Anreize (und wirtschaftliche Not zuhause) eine Rolle, aber das ist eben doch wohl nur ein Teil der Geschichte. Insofern würde ich die Behauptung wagen, dass es noch nie eine Gesellschaft gab, die ihren Mitgliedern so viele Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten geboten hat wie die heutige.