44. Economic Conference
Polarisierte Gesellschaften
Jan-Werner Müller
«Was genau ist gefährlich an Populismus und Polarisierung?»
Matt Grossmann
«Asymmetric Polarization and Party Change»
«Was genau ist gefährlich an Populismus und Polarisierung?»
«Asymmetric Polarization and Party Change»
Das Thema der Konferenz war die zunehmende Polarisierung der Gesellschaften und der damit verbundene Populismus. Jan-Werner Müller analysierte das Phänomen Populismus in Essayform und erläuterte, wie man mit populistischen Bewegungen umgehen kann. Matt Grossmann zeigte anhand empirischer Studien die Polarisierung der US-Politik zwischen der demokratischen und der republikanischen Partei auf.
Referat von Jan Werner-Müller
Deutscher Professor für Politische Theorie, Princeton und Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien
Establishment gegen Volk – ist das wirklich der Konflikt unserer Zeit?
Die ganze westliche Welt, so liest man heute häufig, durchlebe eine neuartige Konfrontation zwischen “dem Volk” and “den Eliten“. Herman Van Rompuy, seinerzeit noch Präsident des Europäischen Rates, warnte schon 2010: „Das große Problem ist der Populismus“. Eine ganz andere prominente Figur auf der europäischen Bühne, Yanis Varoufakis, konstatiert in diesem Sommer eine neue „Inbrunst“ der „Anti-Establishment-Gefühle.“ Und der britische Philosoph John Gray, stets eine Art Seismograph für idées reçues, stellte nach dem Brexit gar fest, Europa erlebe einen „Aufstand der Massen“ –was bei Liberalen, folgt man Gray, geradezu „Paranoia“ ausgelöst habe.
So nachvollziehbar dieses Bild von „Establishment gegen Volk“ auf den ersten Blick auch sein mag – es ist nicht nur irreführend, sondern spielt Populisten direkt in die Hände. Nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist Populist. Ganz im Gegenteil: In der liberalen Demokratie darf nicht nur jeder, der sich ein entsprechendes Urteil bildet, an den jeweils Herrschenden herummäkeln; der „kritische Bürger“ ist eine geradezu klassische Forderung der politischen Bildung. Eine unmittelbare Gleichsetzung von Protest und Populismus ist falsch und dient oft nur dazu, berechtige Beschwerden über politische Maßnahmen zu delegitimieren.
Wer aber ist wirklich Populist? Der Populist operiert stets mit folgender Gegenüberstellung: Auf der einen Seite das moralisch unbefleckte, homogene Volk, auf der anderen die korrupten oder zumindest unfähigen Eliten (was bei deutschen Populisten inzwischen nur noch „Volkverräter“ genannt wird). Insofern kritisiert der Populist – wenn er sich in der Opposition befindet – natürlich auch Eliten. Aber diese Kritik an Eliten ist nur ein notwendiges und kein hinreichendes Kriterium, um Populisten zu identifizieren. Entscheidend ist, dass der Populist eine Art moralisches Monopol anmeldet, wonach er — und nur er – das Volk wirklich repräsentiere. Man denke an den türkischen Präsidenten Reccep Tayyip Erdoğan, der einmal Kritikern an ihm und seiner Partei entgegenschleuderte: „Wir sind das Volk. Wer seid ihr?“ Oder man nehme Heinz-Christian Strache, den Vorsitzenden der rechtspopulistischen FPÖ. Strache präsentiert sich inzwischen stets als „Bürgerkanzler“ – was offensichtlich die Unterstellung beinhaltet, dass der gewählte Kanzler der Republik nicht für die Bürger arbeitet (sondern – das kann sich jeder FPÖAnhänger dann selber ausmalen – für transnationale Eliten oder irgendwelche anderen finsteren Mächte). Klar gesagt: Wer wie die Populisten einen moralischen Alleinvertretungsanspruch in der Politik erhebt, signalisiert damit auch immer gleich, dass alle anderen politischen Mitwettbewerber im Grund nicht legitim sind.
Dies ist aber nicht die einzige Konsequenz aus dem Grundanspruch der Populisten, als einzige das Volk zu vertreten. Aus ihm folgt zudem, dass alle, welche die Populisten nicht unterstützen, auf irgendeine Weise gar nicht zum Volke gehören. Für Populisten ist „das Volk“ nie einfach die empirische Totalität der Bürger in einem Lande. Sie operieren stets mit einer Unterscheidung zwischen „wahrem Volk“ und Bürgern, deren Zugehörigkeit zum Volke prinzipiell in Frage steht. Amerikanische Populisten beispielsweise reden immer von „real Americans“. Und Nigel Frage, der inzwischen zurückgetretene Vorsitzende der britischen UK Independence Party, frohlockte noch in der Nacht der Brexit-Abstimmung, es handele sich bei dem Ergebnis um einen Sieg für „real people“ (was ja nichts anderes suggeriert, als dass die 48 Prozent der Wähler, die in der EU verbleiben wollten, auf irgendeine Weise gar nicht „real“ seien und dem „echten“ britischen Volk nicht angehörten). Donald Trump ließ auf einer Wahlkampfveranstaltung im Mai zwei Sätze verlauten, die angesichts der vielen Hasstiraden und Falschaussagen, welche der republikanische Präsidentschaftskandidat regelmäßig von sich gibt, kaum beachtet wurden. Aber diese Sätze dekuvrierten Trump klar als Populist: “The only thing that matters is the unification of the people, and all the other people don’t matter“.
Eine Aussage wonach das Einzige, was zähle, die Einheit des Volkes sei – das klingt noch relativ harmlos. Doch entscheidend ist die Schlussfolgerung: „All die anderen Menschen, die zählen nicht“. Es gibt also ein wahres Volk und einen einzigen wahren Vertreter dieses Volkes – ihn. Wer gegen ihn ist, ist automatisch nicht Teil des wahren Volkes und ist damit moralisch und vor allem auch politisch irrelevant.
Damit dürfte klar sein, dass ein landläufiges Urteil, wonach Populisten vielleicht im Auftreten etwas grob, aber in der Sache doch gut für die Demokratie seien, so nicht zu halten ist. Populisten wollen gar nicht allgemein „mehr Volksbeteiligung“. Sie haben gar keine prinzipiellen Einwände gegen das moderne Grundprinzip der politischen Repräsentation; sie meinen nur, dass – so sie denn nicht selber an der Macht sind — das Volk die falschen Repräsentanten habe. Sie streben keine Umgestaltung der politischen Systeme in Richtung mehr direkte Demokratie an, sondern wollen nur bisweilen ein Referendum nutzen, um zu demonstrieren, dass die derzeit Mächtigen den wahren Volkswillen gar nicht umsetzten. Entscheidend ist nun, dass es den Populisten – auch hier entgegen dem, was häufig behauptet wird — an einer Repräsentation des politischen Willens gar nicht interessiert sind. Was sie als authentischen „Volkswillen“ bezeichnen, ist keine empirische Größe, die sich aus komplizierten, langen, vielleicht oft auch nervigen Diskussionen erst herausbilden muss. Vielmehr wird der „wahre Volkswille“ aus einer symbolischen Repräsentation des „wahren Volkes“ abgeleitet – auch hier ist also der Ausschluss von Leuten, die auf irgendeine Art nicht „real“ sind, wieder entscheidend. Mit anderen Worten: Populismus kann nicht als Korrektiv fungieren für eine repräsentative Demokratie, in der sich „die Eliten“ (als ob das eine homogene Gruppe wäre…) zu weit vom Volke (als ob das ein homogenes Kollektiv wäre…) entfernt haben. Populisten wollen keinen ergebnisoffenen politischen Diskussionsprozess unter den Bürgern, sondern kennen die richtige – weil vom Volksbegriff symbolisch korrekte – Antwort immer schon vorher. Es geht also gar nicht um so etwas wie Rousseaus volonté générale; vielmehr gilt es, so etwas wie einem „authentischen Volksgeist“ Geltung zu verschaffen. In diesem Sinne sind Populisten auch so etwas wie Nationalromantiker.
Nun ergibt sich für die Populisten aus ihrem moralischen Alleinvertretungsanspruch sofort eine nicht ganz triviale Herausforderung. Sie behaupten, das Monopol der authentischen Repräsentation zu haben – doch warum bekommen sie dann bei Parlamentswahlen oder Referenden nicht hundert Prozent der Stimmen? Die eine Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, besteht darin, den Status von Bürgern, welche Populisten ablehnen, als Teil des authentischen Volkes in Frage zu stellen. Eine andere ist, politischen Systemen, welche die aus Sicht der Populisten politisch und moralisch falschen Ergebnisse produzieren, die Legitimität abzusprechen. Es ist kein Zufall, dass Populisten nach für sie ungünstigen Wahlergebnissen immer gleich die Systemfrage stellen. Man denke an Viktor Orbán, der nach der überraschenden Wahlniederlage bei den ungarischen Parlamentswahlen 2002 deklamierte: „Die Nation kann gar nicht in der Opposition sein“. Nicht nur wurde hier der für Populisten entscheidende moralische Alleinvertretungsanspruch gestellt (nur Orbáns Partei Fidesz repräsentiert die Nation) – es wurde auch suggeriert, dass ja wohl etwas ganz grundsätzlich nicht stimmen könne an einer Demokratie, welche die Nation nicht zum Zuge kommen lasse (weswegen es denn nur folgerichtig ist, dass Orbán seit seinem Wahlsieg 2010 das politische System Ungarns derart umgestaltet, dass eigentlich nur seine Partei Fidesz an der Macht sein kann). Oder man denke an den österreichischen Präsidentschaftswahlkampf dieses Jahres. Norbert Hofer, der Kandidat der FPÖ, sagte seinem Konkurrenten, Alexander Van der Bellen, bei einer Fernsehdebatte ins Gesicht: „Sie haben die Hautevolee und ich die Menschen“. Wie konnte es dann sein, dass „die Menschen“ bei der Abstimmung Ende Mai eine Niederlage erlitten? Es konnte nicht sein, was in der Demokratie nicht sein durfte; also wurde das Ergebnis angezweifelt (bekanntermaßen entschied das österreichische Verfassungsgericht, dass die Wahl zu wiederholen sei, ohne allerdings den FPÖ-Suggestionen zu folgen, wonach es Manipulationen zugunsten Van der Bellens gegeben habe).
Hofer behauptete nach dem Wahlausgang, sein Gegner sei „gezählt, aber nicht gewählt.“ Doch in der Demokratie zählen nur Zahlen, sprich: empirische Wahlausgänge (solange die Abstimmungen frei und fair sind). Man kann nicht eine vermeintlich „Substanz“ des Volkes (von Populisten oft „schweigende Mehrheit tituliert) gegen die 5 existierenden demokratischen Institutionen (inclusive des Wahlprozesses) ausspielen. Eben dies aber tat bereits ein Denker wie Carl Schmitt, der in den zwanziger Jahren bei seinem Generalangriff auf den Parlamentarismus erklärte: „Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert werden als durch den statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so minutiösen Sorgfalt ausgebildet hat. Je stärker die Kraft des demokratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß Demokratie etwas anderes ist als ein Registriersystem geheimer Abstimmungen.“ In diesem Sinne sind die Populisten, welche Volksgeister und schweigende Mehrheiten gegen den in der Demokratie unvermeidlichen „statistischen Apparat“ in Anschlag bringen, auch Erben Carl Schmitts.
Mit all dem soll nicht gesagt sein, dass es in der Demokratie allein die Macht des Faktischen gäbe und man Wahlverfahren oder andere Institutionen nicht kritisieren dürfe. Jedem steht frei, auf den Straßen zu demonstrieren, kritische Blog-Einträge zu verfassen, vor Gericht zu ziehen oder zum letzten Mittel des zivilen Ungehorsams zu greifen. Wie der deutsche Verfassungsrechtler Christoph Möllers gezeigt hat, kommt solchen Handlungen zweifelsohne eine demokratische Bedeutung zu – aber ihnen fehlt die demokratische Form. Nur Institutionen wie Wahlen haben eine derartige Form und können Repräsentanten ermächtigen, für alle Bürger verbindliche Entscheidungen zu treffen.
Nun ist man vielleicht versucht zu schlussfolgern, dass Populisten in einer Art politischen Fantasiewelt lebten: Sie machen sich aus allerlei symbolischen Versatzstücken einen Volksbegriff zurecht; sie legen dem imaginierten Volke dann ihre eigenen Worte in den Mund und behaupten schließlich, wie Trump auf dem Parteitag der Republikaner im Juli, „I am your voice“. Diese Fiktionen, so könnte man meinen, müssen zwangsläufig an der politischen Realität scheitern. Eine ähnliche Erwartung, was die unvermeidliche „Entzauberung“ von Populisten angeht, findet sich auch bei Beobachtern, welche populistische Parteien vor allem als Protestbewegungen verstehen – und dann schlussfolgern, dass Protestparteien per definitionem nicht zum Regieren in der Lage seien, weil man, einmal an der Macht, schließlich nicht gegen sich selbst protestieren könne. Gar nicht zu reden von denjenigen, die meinen Populismus bedeute so etwas wie unterkomplexe Politikangebote oder demagogische Versprechen, welche zwangsläufig mit der politischen und vor allem auch ökonomischen Wirklichkeit in Konflikt geraten müssten. Wenn all dies so stimmte, könnte man eigentlich erleichtert feststellen, dass sich das Problem Populismus irgendwann von alleine löst.
Doch hier machen es sich vor allem liberale Beobachter viel zu einfach. Populisten können durchaus regieren – und zwar ganz im Einklang mit ihrem moralischen Alleinvertretungsanspruch. Wenn Populisten ausreichende Mehrheiten haben (also nicht nur als kleinere Koalitionspartner agieren und weitestgehend keine Gelegenheit haben, ihre Grundvorstellugen zu verwirklichen), heißt dies in der Praxis meist dreierlei: Erstens versuchen Populisten, den Staat für sich zu vereinnahmen, indem sie, was eigentlich als neutrale Behörden gedacht sind, mit ihren Gefolgsleuten besetzen. Zudem trachten sie danach, alle Institutionen, welche ihnen in einem System von Gewaltenteilung entgegenstehen könnten, zu schwächen. Konkreter gesagt: Die Leitvorstellung einer genuinen Beamtenschaft wird ausgehöhlt und Einrichtungen wie Verfassungsgerichte werden brutal bekämpft. Man denke an das Vorgehen Orbáns in Ungarn oder auch das der Partei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) in Polen. Zwar versuchen nicht-populistische Parteien auch oft, für die eigenen Leute Pöstchen herauszuschlagen; der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass Populisten ihre „Staatsnahme“ ganz offensiv im Namen ihrer populistischen Ideale verteidigen: Der Staat, so behaupten Populisten dann, solle doch dem Volke dienen – was in der Praxis heißt, er solle von denjenigen vereinnahmt werden, die sich als einzige legitime Vertreter des Volkes verstehen.
Ähnlich direkt können Populisten rechtfertigen, was die Politikwissenschaftler „Massenklientelismus“ nennen. Einfach gesagt: Bürger bieten politische Unterstützung an; Politiker offerieren als Gegenleistung materielle Vorteile oder die ein oder andere Hilfe beim Behördengang. Auch bei Nicht-Populisten kennt man das: Parteien möchten etwas für ihre Klientel tun und, so mag mancher meinen, das sei nun mal so in der Demokratie. Nur: Für die Populisten sind ihre Unterstützer ohnehin das einzig wahre Volk; es geht also in ihren Augen nicht nur um die Befriedigung von Partikularinterssen; man gibt halt nur denen nichts, die ohnehin nicht wirklich dazugehören.
Dazu kommt noch ein drittes, oft wenig beachtetes Element populistischer „Staatskunst“. Populisten sehen sich unter Umständen nicht nur einer machtpolitischen Herausforderung gegenüber, wenn sich aus der Zivilgesellschaft Protest gegen sie regt. Sie haben immer auch gleich ein symbolisches Problem. Denn es könnte ja so aussehen, als sei das Volk doch nicht auf ihrer Seite. Ihre Lösung ist deswegen stets zu behaupten, die zivilgesellschaftlichen Akteure seien gar nicht das, als was sie erscheinen. Vielmehr werde Protest gegen die authentischen Repräsentanten des Volkes aus dem Ausland ferngesteuert. Putin hat diese machtpolitische – und symbolisch wichtige – Strategie als erster umgesetzt; Akteure wie Erdoğan, Orbán und Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende von Recht und Gerechtigkeit, haben es ihm gleichgetan. Zivilgesellschaftliche Organisationen mussten sich als „ausländische Agenten“ registrieren lassen; stets wurde Opposition als Verrat gebrandmarkt (Kaczyński verstieg sich zu der Behauptung, Demonstranten auf den Straßen Warschaus seien „Polen der schlimmsten Sorte“, welche Verrat in den Genen hätten).
Man sollte sich also keine Illusionen machen: Es gibt so etwas wie populistische Herrschaftstechniken. Dass diese dazu dienen, die Populisten an der Macht zu halten ist offensichtlich; weniger offensichtlich ist, dass die offensiv vorgetragenen moralischen Rechtfertigungen der Populisten offenbar auch bei vielen ihrer Unterstützer verfangen. Wie sonst ließe sich erklären, dass beispielsweise die Enthüllungen über Korruption, welche 2013 in der Türkei begannen, Erdoğan nicht wirklich schwächten? Die Antwort bei Anhängern von Erdoğans AK-Partei schien zu sein: „Er hat es ja alles für uns getan, das wahre Volk.“
Gleichzeitig sollte man nun nicht ob der cleveren Machttechniken und Selbstrechtfertigungen der Populisten in Ehrfurcht erstarren. Populisten werden zwar alles tun, um oppositionelle Medien zu schikanieren, Wahlverfahren zu manipulieren und sich ein ihnen gefügiges Volk nach dem eigenen Bilde zu schaffen – aber langfristige politische Erfolgsgarantien sind dies nicht. Man denke an Nicolás Maduro, den glücklosen Nachfolger von Hugo Chávez. Die katastrophale wirtschaftliche Lage (die von Maduro mit der „ökonomischen Kriegsführung“ seitens der Opposition erklärt wird) und die zunehmend repressiven Maßnahmen, die den „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ retten sollen, werden wohl über kurz oder lang dazu führen, dass die „rosa Welle“ von populistischen Regierungen Lateinamerikas auch in Venezuela ausläuft.
Es gibt noch eine weitere Lektion für Liberale, die es sich im Umgang mit Populisten zu leicht machen. Es ist fatal zu meinen, Figuren wie Chávez oder Erdoğan kämen quasi aus dem Nichts, um plötzlich gut funktionierende demokratische Systeme von innen heraus zu zerstören. Man muss bei weitem nicht alles, was Populisten an 8 Beschwerden vorbringen, für bare Münze nehmen – aber ihre Rede, dass Teile der Bevölkerung vom politischen Prozess geradezu ausgeschlossen sind, gilt es zumindest erst einmal ernst zu nehmen. Es war kein Hirngespinst zu behaupten, dass die „schwarzen Türken“ – also diejenigen, welche nicht dem kemalistischen Idealbild des modernen, durchsäkularisierten Bürgers entsprachen – in der Türkei lange benachteiligt waren; es ist kein chávistisches Propagandaklischee, dass die venezolanische Wirtschaft von wenigen Familien dominiert wurde und das alte Zwei-Parteien-System wenig politischen Gestaltungsspielraum bot. Zumindest am Anfang hätten Chávez oder Erdoğan nicht sagen müssen: „Wir sind das Volk“ (wie dies Populisten tun); eine völlig plausible Alternative wäre gewesen: „Wir sind auch das Volk“, sprich: „Wir repräsentieren Teile der Bevölkerung, die vergessen oder marginalisiert wurden, und wir melden legitime Ansprüche an“. Niemand kann wissen, ob Chávez oder Erdoğan nicht früher oder später so oder so zu autokratischen Figuren geworden wären. Aber dass existierende Eliten ihre Ansprüche am Anfang einfach abblockten, hat sehr wahrscheinlich zu ihrer politischen Radikalisierung beigetragen.
Daraus folgt auch: Demokratischen Politikern, die mit populistischen Parteien konfrontiert sind, wird einiges an politischer Urteilskraft abverlangt. Statt „Paranoia“ (Gray) zu pflegen, sollten sie sich bemühen zu verstehen, welche Beschwerden der Populisten vielleicht berechtigt sind. Sie dürfen nicht der Versuchung nachgeben, diejenigen, die stets andere ausgrenzen und dämonisieren, nun selber auszugrenzen und zu dämonisieren (auch wenn parteipolitisches Kalkül dies oft umso verführerischer macht). Sie müssen aber auch deutlich machen, wo die demokratische Auseinandersetzung an ihre Grenzen stößt: Wenn die Populisten mehr oder weniger nonchalant die Systemfrage stellen oder mit den handelsüblichen Verschwörungstheorien die Welt erklären, müssen andere Politiker klar machen, dass hier das Terrain einer „normalen“ demokratischen Diskussion über Interessen und Identitäten gerade verlassen wird. Keine einfache Aufgabe. Aber wer hat jemals guten Gewissens behauptet, dass Demokratie einfach sei?
Referat von Matt Grossman
Direktor des Institute for Public Policy and Social Research (IPPSR) und Professor für Politikwissenschaft, Michigan State University
Hier finden sie die Folien des Referates: