«Das Tabu – sind südeuropäische Gesellschaften endgültig dysfunktional?»
Referat von Beat Kappeler
Schweizer Ökonom, Publizist und Author
Der Euro als gemeinsame Währung ist 2010 nach nur 11 Jahren in die Krise geraten, und zwar wegen der klaffenden Unterschiede an Wettbewerbsfähigkeit der nördlichen Mitgliedsländer einerseits, der südlichen Länder und Frankreichs andererseits. Diese Lage führte zu Handelsbilanzdefiziten und entsprechender Verschuldung dieser Länder. Dies wurde eine Zeit lang vernebelt durch die einzige Konvergenz des Euroraums nach seiner Gründung, nämlich den Fall der Zinsen lateinischer Länder, Irlands und Griechenlands auf deutsches Tiefniveau.
Die Politiker der Eurozone wurden zuerst mit dem Schuldenberg und den gefälschten Statistiken Griechenlands konfrontiert, dann mit der Zahlungsunfähigkeit des Rests. Sie reagierten in drei Stufen:
Zuerst leugnete man das grundsätzliche Problem („c’est de la spéculation“, EurogruppePräsident Juncker), dann glaubte man mit eilig gefassten Geldtransfers zur Lösung zu kommen, drittens merkte man, dass es strukturelle Probleme waren und fasste Pläne zu Fiskalunion und Bankunion mit entsprechender Disziplinierung der Schuldner. Dies wirkte im Falle Irlands und seiner Immo-Krise, nicht jedoch für die südlichen Schuldner und Frankreich.
Hier machen wir eine vierte Reaktionsstufe beliebt, dass nämlich die Gesellschaften lateinischer Kultur schwerwiegende Defizienzen gegenüber dem Modell der weltmarktgängigen westlichen und asiatischen Marktgesinnung und moderner, Max-Weberscher Rationalität des öffentlichen Raums aufweisen. Ob dies „endgültig“ bleibt, wie im Titel angedeutet, will lediglich heissen, dass es nicht rasch genug korrigiert werden kann, damit der Euro in seiner heutigen Form gerettet ist, oder damit diese Länder auf dem erreichten Konsumstandard fortgeschrittener Industrieländer verbleiben können.
Da die Stimmrechte in der Fiskalunion und im ESM, sowie in der EZB den überschuldeten Ländern der Eurozone eine Blockierung der Sanierungen und Sanktionen erlauben, ist diese Frage von Bedeutung.
Die Dysfunktionalität zeigt sich so:
- Keine Interessentrennung von Amt und Amtsperson
- Parteien als tribale Strukturen mit feudaler Gefolgschaft und Wohltaten
- Gewerkschaften mit Null-Summendenken anstatt win-win-Denken, dementsprechende Ausgestaltung der Arbeitsmarktregeln
- Miese PISA-Resultate, wenig English- oder IT-Kenntnisse, schlechte Universitäten
- Kleinstfirmen ausserhalb weltweiter Wertschöpfungsketten
- Die Leute dort reisen nicht, kennen die Welt nicht
- Kein Respekt vor schriftlichen Engagements, sondern situative Arrangements („les promesses n’engagent que ceux qui y croient“): Problem der “collective action“ gemäss Public Choice.
Im Detail nun:
Amtsinteresse und Amtsperson
Die Max-Weber’sche Rationalität der Interessentrennung spielt in den lateinischen Ländern und in Griechenland nicht. Seit Jahrzehnten war dies bekannt, seit der Eurokrise werden einige Prozesse angestrengt, welche die ungeheuerlichen Fehlleistungen anzeigen (Berlusconi, Bossi, „appalti“, spanische Minister, Rajoy, und Alcaldes, Regionalregierungen in E und I, Prozesse in Frankreich, früher Craxi-Verfehlungen, in Griechenland nach jeder Wahl Zehntausende von Wahlhelfern verbeamtet etc.). Auch sind die Privilegien und Löhne von politischem Personal im Süden an sich schon viel höher als im Norden. In Italien regt sich seit einigen Jahren die Kritik an „parentopoli“, der enormen Verwandtschaft unter Professoren der Universitäten Messina, Palermo, Bari, Sapienza-Roma u.a. (Nino Luca, „Parentopoli…“ 2009).
Die modische Regionalisierung mit einer zusätzlichen Regierungs- und Verwaltungsstufe führte in I, E, F zu ausufernden Ausgaben für Projekte und Personen, gemäss Ausgabenkompetenzen, die jedoch nicht durch gleich hohe Einnahmenverantwortung gedeckt sind. Die resultierenden Überschuldungen und Defizite werden durch die Zentralregierungen gedeckt oder garantiert, um die Ratings der Nation insgesamt nicht zu gefährden (I, E, F). Eine Kette der Erpressung läuft von Dezabank, Sizilien und Katalonien nach Paris, Rom und Madrid, von dort nach Berlin, Brüssel und zur EZB.
Parteien mit tribaler Struktur
Die Parteien dieser Länder sind weniger ideologisch verbunden, sondern vielmehr durch personelle Verflechtungen, Abhängigkeiten, Finanzierungen. Rivalitäten der leitenden Personen sind an der Tagesordnung und machen oft den Hauptteil der öffentlichen politischen und medialen nationalen Debatte aus (Renzi-Letta, Alfano-Berlusconi, Copé-Fillon, „courants“ im PS und „Clubs“ bei der Rechten Frankreichs). Die Aufstellung der Parlamentskandidaten folgt oft dem „parachutage“ aus der Parteizentrale, also einem kooptativen, oligarchischen Moment. Reformparteien sind oft nicht besser – das M5S und seine Abgeordneten erhalten ihre Anweisungen über den Blog Beppo Grillos.
Arbeitsmarkt als Nullsummenspiel aufgefasst
Der Diskurs der Gewerkschaften und auch der Parteien bis weit über die bürgerliche Mitte hinaus geht von einem grossen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aus. Oft scheint es, nur Schaden für die Firmen sei ein Gewinn für die Arbeiter. Jedenfalls herrscht eine Arbeitskuchenlehre („lumpsum theory of work“) vor, wonach viel Arbeit der einen den anderen die Arbeit wegnimmt. Deshalb „Arbeitsumverteilung“ durch kurze Wochenarbeitszeiten (und massive Verteuerung und Reglementierung der Arbeitskosten), deshalb Kündigungsschutz, sodass niemand einstellt. Arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen werden von der Politik aufgegriffen, „gelöst“, oder landen in jahrelangen Prozessen vor Gerichten. Mit kurzer Wochen-, Jahres-, Lebensarbeitszeit liegt die Quote der Erwerbsbeteiligung der an sich aktiven Jahrgänge weit unter nördlichen Ländern (speziell jener der Schweiz, Norwegens). Die Globalisierung wird als Bedrohung von aussen aufgefasst, die mit nationaler Abschottung abgewehrt werden soll. Industriepolitik wird als Aufgabe der Regierungen gesehen, enorme Summen fehlgeleitet, oder private Hersteller konkurrenziert (auch im Wohnungsbau). Alle diese Politikfelder sind stark pfadabhängig, politischer Korrektheit folgend und können kaum umgedreht werden. Noch ist keine Regierung in diesen Ländern wieder gewählt worden, seit der Eurokrise.
Dysfunktionales Bildungssystem
Die PISA-Resultate dieser Länder sind schlecht, jene Frankreichs auch nicht gut. Funktionaler Alphabetismus ist verbreitet (functional illiteracy, aus Human development Index: Italien drei Mal mehr als D, vier mal mehr als Dk, nämlich 45% der Bevölkerung). Schlecht sind Englisch- und ITKenntnisse in diesen Ländern. Gemäss OECD-PISA-Studie über Erwachsene (Okt. 2013) haben Erwachsene mit Sekundarschulniveau in Jap und NL bessere Lese- und Math-Kenntnisse als Universitätsabgänger in I und E. Auch Frankreich steht schlecht da. Alle diese Länder kennen keine Berufslehre im Stile von D, CH, A, Skandinavien. Gemäss persönlichem Eindruck sind formale Texte Italiens in Zeitungen, Büchern und Gesetzen sehr hochgestochen und elitär, während die TV-Sendungen anspruchslos gehalten sind – ein enormer Zwiespalt. Gemäss verschiedenen Erhebungen ist die Internet-Nutzung, die PC-Dichte in Schulen überall im Süden deutlich geringer als im Norden und USA.
Die Lehrergewerkschaften sind in allen diesen Ländern sehr stark und militant; sie stellen überall die Speerspitze gegen Reformen jeder Art dar.
Kleinstfirmen ohne Weltmarktkompetenz
Die lateinischen Länder zählen einige Grosskonzerne, grosse Staatskonzerne der Infrastrukturen, aber wenig mittelgrosse oder kleiner Firmen, die exportieren, forschen, innovieren – im Vergleich zu Europas Norden oder manchen Regionen der angelsächsischen Länder, und natürlich neuerdings Asiens. Fehlende IT-Vertrautheit, fehlende Englischkenntnisse, fehlende Auslandsreisen (statistisch belegt…) beschränken den Eintritt in weltweite Wertschöpfungsketten, sei es zum Einkauf oder Verkauf. Ausserdem bestrafen die Arbeitsmarktregeln, die in Kaskaden gemäss Firmengrösse strenger werden, die Expansion von Firmen.
Pacta sunt servanda, gelegentlich
Dies kann nicht mit Statistiken unterlegt werden, wie die bisherigen Punkte, aber eine vielerorts fehlende Vertragstreue ist die Folge aller Punkte. Kapitalismus aber baut strikt auf Vertragstreue, auf Klagbarkeit von Verträgen vor Gerichten und auf Treu und Glauben auf. Der formal oft hürdenreiche Zugang an Gerichte, ihre Langsamkeit erschweren rechtsstaatliche Verhältnisse und verleiten zu Selbsthilfe oder Klientenverhalten, jedenfalls verstärken sie soziales Gefälle. Die Verrechtlichung ist sehr stark (einer auf 80 Einwohner Palermos, einer auf 100 in Rom und Mailand, einer auf 180 in Turin ist Anwalt). Im politischen Bereich laufen die meisten Akteure „mit einem Messer im Rücken“ herum, siamo nei paesi di Macchiavelli. Auch diese politische Dysfunktionalität rührt aus allen besprochenen Punkten her, insbesondere natürlich auch dem Charakter der Parteien und innerparteilicher Rivalitäten. Auf der Ebene des Staates: Die Theorie des Public Choice sieht die „collective action“ und das „rent seeking“ der an sich rationalen einzelnen Pressionen mit ihren Kuhhändeln, Kreuzkompromissen zu Lasten der Staatskasse als Anlass zum Untergang. Auf der Ebene von Euroland: innert weniger Jahre wurden alle Verträge gebrochen, zugunsten von Augenblicks-„Lösungen“ für den Süden und Frankreichs: EZB-Satzungen, MaastrichtKriterien, Beihilfe-Verbot im Art. 125 des Lissabonner Vertrags, und zwar auch durch die höchsten Gerichte (EuGH und Bundesverfassungsgericht).
Der Schluss
David Gilmour zeigt in „The Pursuit of Italy“ (Allen Lane, 2011) wie die Integration Süditaliens in den Währungs- und Politverbund des dominierenden (piemontesisch-französischen) Nordens die Verarmung und politische Verharschung brachte. Die Dysfunktionalität steckt also das Funktionierende an, nicht umgekehrt. Diese Probleme des „neuen Südens“ innerhalb des ganzen Kontinents diesmal sind nicht innert 20 Jahren zu lösen, sie werden also wie schon gezeigt, den Norden anstecken und den Süden im Würgegriff der Anpassungsleistungen verarmen lassen. In Euroland greift man zwecks Verwedelung beider Trends zu Rechtsbrüchen und zur EZBGeldschwemme wegen der Staatsfinanz-Probleme des Südens, wie vor einem Jahr von der EZB versprochen, und damit zur allgemeinen Ansteckung des Nordens mit Inflation, Ineffizienz und Fehlallokation der Ressourcen.
Lorenzo Bini Smaghi zählt im neuesten Buch zu Italien („Morire di austerità“, 2013) alle denkbaren „Lösungen“ auf und schliesst jedoch, dass es keine praktikable gibt.
«Deutschland – Insel der Seligen, letzte Bastion der ökonomischen Vernunft oder doch eher subtiler Schmarotzer Europas?»
Referat von Karen Horn
Professorin für die Ideengeschichte der Wirtschaft und Wirtschaftsjournalismus, Universität Erfurt
Sehr geehrte Damen und Herren, die Progress Foundation hat einen Konflikt ausgemacht. Leider zu Recht. Einen Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden Europas. Ein Konflikt ist ein Zusammenstoß. Wir kennen das vom Autofahren. Wenn man Glück hat, ist der Zusammenstoß so milde, dass man nur ein wenig durchgeschüttelt wird und allenfalls Kratzer an der Stoßstange bleiben. Doch nicht immer geht es so schön glimpflich aus. Wenn beim Zusammenstoß arg viel zu Bruch geht, wird es schwierig, alle Scherben wieder aufzulesen, die Blessuren zu heilen und die Risse zu kitten. Es kann auch ein Totalschaden herauskommen. Stehen wir in Europa vor einem Totalschaden? Einem Auseinanderbrechen nicht nur des Euro-Raums, sondern womöglich auch der Europäischen Union? Des europäischen Friedensprojekts, was die Dramatik auf die Spitze triebe? Für sehr wahrscheinlich halte ich nichts von alledem. Ich kann es natürlich auch nicht vollends ausschließen. Doch je größer der Rahmen gezogen ist, desto weniger kommt mir ein solcher Schaden unabwendbar vor. Wenn der Euro scheitert, muss deshalb noch lange nicht Europa scheitern und auch nicht der Frieden. Zu welcher Prognose man zum jetzigen Zeitpunkt in den einzelnen Teilfragen gelangt, ist freilich nicht zuletzt auch eine Frage des Temperaments.
Der Zusammenstoß zeigt sich darin, dass sich die ersehnte Stabilitätskultur, die mit der Einheitswährung erzwungen werden sollte, in Teilen Europas längst wieder aufgelöst hat. Nirgendwo ist sie noch so, wie sie sein sollte, natürlich auch in Deutschland nicht, wo sich die werdende Koalition schon anschickt, von den einstigen Sparzielen abzurücken. Aber besonders dramatisch ist die Lage bekanntlich im Süden: in Griechenland, Zypern, Spanien, Portugal, Italien und leider auch im derzeit sozialistisch gefährlich fehlgesteuerten, offenbar bewusst und mutwillig Wettbewerbsfähigkeit abbauenden und zunehmend desindustrialisierten Frankreich. Die Trennlinie zwischen dem Norden und dem Süden ist zu deutlich, als dass man sie ignorieren oder für belanglos halten könnte. In ihr haben sich vermutlich Fehlanreize mit unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Lehren, Traditionen und Mentalitäten verbunden. Zumindest über die beiden letzteren kann und darf man nicht richten, aber man muss sie zur Kenntnis nehmen.
Der Euro war gleichsam ein Bildungsprojekt: Indem sich die Staaten die Möglichkeit nahmen, ihre Währungen künstlich abzuwerten und sich damit Exportvorteile zu verschaffen, sollten auch die unsicheren Kandidaten einen Anreiz bekommen, in Zukunft und möglichst auch dauerhaft ordentlich zu wirtschaften und sich stabilitätskonform zu verhalten. Sie sollten ökonomische Vernunft lernen und sie praktizieren. Es wurde ihnen auch leicht gemacht mit den niedrigen Zinsen, von denen sie profitierten, als Windfall Profit, völlig unverdient und allein dank der Anbindung an den Euro-Raum. Doch die damit verbundene Chance wurde vertan. Das Bildungsprojekt, in dem ein großes Stück Hoffnung und auch eine gehörige Dosis zentralistische Anmaßung steckte, ist gescheitert.
Statt allgemeinen ökonomischen Wohlverhaltens erleben wir infolge dessen eine gigantische Rettungspolitik, von der noch niemand auch nur ansatzweise weiß, was sie wen kosten wird. Wir müssen darüber auch gar nicht groß nachdenken, denn die Rettung der Länder, die normalerweise in die Insolvenz steuern würden, ist ja, diese Parole hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schon früh ausgegeben, „alternativlos“. Es war nur noch die Frage, wie diese Rettung, dieses Ausheben der Märkte, vonstatten gehen sollte. Die deutsche Kanzlerin hat sich darum verdient gemacht, dass es bisher keine Eurobonds gibt. Eurobonds sind in Deutschland zum Symbol für die Vergemeinschaftung der Schulden in Europa geworden und damit zugleich zu einer Nebelkerze. In diesem Fall begreift das Publikum, dass das irgendwann an des deutschen Michel Portemonnaie gehen könnte. Ihr Protest gegen Eurobonds – nach anfänglichem Zögern – hat Merkels Partei, der Union, in der jüngsten Bundestagswahl sehr geholfen. Dass die von ihr unterstützte und beförderte Rettungsarchitektur mit ihren so unzählbaren wie unaussprechlichen Institutionen und Akronymen, verbunden mit der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, nicht weniger auf eine Vergemeinschaftung der Schulden und massive Umverteilung im Euro-Raum hinausläuft, gesteht noch nicht einmal der politische Gegner ein. Was logisch ist, denn der hätte ja noch nicht einmal mit Eurobonds ein Problem.
Zumindest in der oberflächlichen Wahrnehmung hat sich Angela Merkel also in der Europapolitik nicht nur als Sachwalterin der deutschen Interessen, sondern auch als Stimme der ökonomischen Vernunft positioniert. Die infamen Anfeindungen, die aus dem Süden auf sie niedergehen, haben ihr innenpolitisch zusätzlich geholfen. Wer in Ländern, die von massiver deutscher Unterstützung profitieren, mit Hitler-Bärtchen im Zeitungsaufmacher landet, kann sich des an der Wahlurne tätigen Mitgefühls des deutschen Stimmbürgers sicher sein. Wenn die Südländer Angela Merkel verhindern wollten, hätten sie diese Töne nicht anschlagen dürfen. Taktisch war das unklug. Es gibt Formen der ehrabschneiderischen Verunglimpfung, die der Deutsche, der wohl niemals locker mit seiner düsteren nationalen Vergangenheit wird umgehen können und das meines Erachtens auch gar nicht soll, nicht gut wegzustecken vermag.
Der Konflikt, soviel dürfte klar geworden sein, spielt sich auf zwei Ebenen ab: auf der ökonomischen Ebene, wo nicht nur wirtschaftspolitische Überzeugungen und lange eingeübte nationale Handlungsweisen miteinander kollidieren, und auf der europapolitischen Ebene, wo nunmehr Ansprüche gegeneinander erhoben werden. In Deutschland wächst der Groll auf die Griechen und die anderen betroffenen Südländer, die nicht zu wirtschaften verstehen, die Euro-Dividende verfrühstückt haben und jetzt für den deutschen Steuerzahler ein Fass ohne Boden zu werden drohen. In Griechenland und den anderen betroffenen Südländern hingegen wächst der Groll auf die Deutschen, die jetzt doch tatsächlich darauf dringen, dass die Unterstützung an Bedingungen geknüpft wird, was schließlich eine ungeheuerliche Einmischung bedeutet.
Der Norden, also Deutschland und mindestens noch England und die Niederlanden, sieht den Süden mittlerweile klischeehaft als Hort der Unsolidität und der Chuzpe. Alte Vorurteile leben auf. Der Süden hingegen sieht zumindest Deutschland als Hort humorlosen, pingeligen Bürokratentums, als zunehmend diktatorische Macht und im Übrigen auch als perfiden Schmarotzer. Deutschland und insbesondere seine Export-wirtschaft hätten so lange vom Euro profitiert und damit anderen europäischen Volkswirtschaften systematisch das Wasser abgegraben, nun werde es höchste Zeit, etwas davon an die Partner abzugeben, heißt es immer wieder. Darauf wird noch näher einzugehen sein.
Soviel zur Beschreibung des Konflikts. Nun aber zur Frage, wie Deutschland in dieser Gemengelage eigentlich dasteht. Die gute Nachricht: Wir können nicht klagen. Was für eine Redewendung schon. Als ob einem etwas abginge, wenn man nicht klagen „könne“! Typisch deutsch. Aber im Ernst. Die deutsche Wirtschaft segelt mit einer Wachstumsrate von wahrscheinlich nicht viel mehr als einem halben Prozent im Jahr 2013 und einer Arbeitslosenquote von weniger als 7 Prozent zwar nicht durch die Krise, als wäre nichts gewesen, aber das liegt vor allem am prekären Umfeld, an der Schwäche der Weltwirtschaft. Deswegen steckt die reale Ausfuhr derzeit auch in einer Stagnation, mit Aussicht auf leichte Besserung im kommenden Jahr.
Die deutsche Wirtschaft selbst aber ist insgesamt von einer Robustheit, die die europäischen Partner verständlicherweise vor Neid erblassen lässt und die Deutschen selbst überrascht. War Deutschland nicht vor noch gar nicht allzu langer Zeit das Schlusslicht Europas? Ein wahres Sorgenkind? Davon ist heute nicht mehr viel übrig, und das nicht zuletzt aufgrund der „Agenda 2010“, mit der sich die deutschen Sozialdemokraten um Deutschland und seine Wettbewerbsfähigkeit in einer Weise verdient gemacht haben, die sie heute längst bedauern. Deutschlands Robustheit liegt zudem bekanntlich ganz wesentlich an der Stärke der deutschen Industrie und der langjährigen klugen Zurückhaltung der Tarifparteien.
In Indizes wie dem DACH-Reformbarometer oder dem Ranking des Economic Freedom of the World ist Deutschland auf dem Weg nach vorne. Die Aussichten sind gut, die Zuversicht ist ungebrochen. Ganz aktuell, im Oktober 2013, ist der ZEW-Index der Konjunkturerwartungen den dritten Monat in Folge gestiegen und liegt auf dem höchsten Stand seit dreieinhalb Jahren. Und die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten einhellig für das kommende Jahr ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von bis zu zwei Prozent. Immerhin. Felix Germania!
Das war die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht: Dass der Deutsche nicht klagen kann, das gibt es nicht. Natürlich können wir klagen, so will es das nationale Klischee, und wir finden auch gute Gründe dafür. Im Ernst: So perfekt, wie das Bild sich darstellt, ist es nicht. Die deutsche Wirtschaft hat ein paar Schwachpunkte, die durchaus nicht trivial, sondern sehr ernst zu nehmen sind, manche davon mehr hausgemacht, manche weniger. Vor allem leidet Deutschland unter einer Investitionsschwäche. Im vergangenen Jahr sind die Ausrüstungsinvestitionen um 4 Prozent zurückgegangen, in diesem Jahr läuft es auf ein Minus von 2,5 Prozent zu. Als Ursache dafür verweisen Konjunkturforscher vor allem auf die Unsicherheit, die mit der Euro-Krise – da ist sie wieder – ebenso wie mit den realen und erwarteten Kosten aus der Energiewende einhergeht. Und dass wir in letzter Zeit immer wieder eine Diskussion über Steuererhöhungen hatten, hat sicherlich auch nicht geholfen. Im Übrigen sind wir in Deutschland auf den sich allmählich abzeichnenden, uns auch nicht wirklich komplett überraschend treffenden demographischen Wandel ganz und gar nicht gut vorbereitet, insbesondere nicht mit unseren Systemen der sozialen Sicherung. Dass die niedrigen Zinsen, eine Folge der Krisenbekämpfung, es den Bürgern verunmöglichen, in sinnvoller Weise private Vorsorge zu betreiben, macht die Lage nicht besser. Stattdessen züchten wir eine Immobilienblase, weil uns allen nur noch einfällt, in Steine zu investieren. Erst vor zwei Tagen hat die Bundesbank öffentlich davor gewarnt – auch wenn der Nobelpreisträger Eugene Fama behauptet, es gebe keine Blasen. Allerdings widerspricht er sich dabei gelegentlich selbst.
Wie auch immer, über all dem, was ich geschildert habe, schwebt das Damoklesschwert, wie das Abenteuer Euro wohl am Ende ausgehen mag. Wir spüren derzeit vage die Unsicherheit, die damit verbunden ist, ärgern uns über die niedrigen Zinsen, die sich entgegen der Verheißungen des Keynes-Effekts noch nicht einmal in gesteigerten Investitionen niederschlagen, und die umfassenden Umverteilungseffekte der von der EZB manipulierten Refinanzierungsbedingungen vermag niemand abzuschätzen. Aber irgendwann, so fürchten alle, wird sie auch in Deutschland kommen, die Inflation infolge der Geldmengenaufblähung. Und was geschieht, wenn die waghalsige Rettungspolitik doch noch schiefgeht und die Forderungen, die die Bundesbank über das Target-2-Zahlungssystem, das Clearing-System des Eurosystems, an die EZB hat, Schall und Rauch werden? Niemand mag es sich ausmalen, selbst der Münchner Ökonom HansWerner Sinn nicht, der das Thema in den öffentlichen Diskurs eingespeist hat. Insofern kann ich resümieren: Eine Insel der Seligen ist Deutschland leider nicht. Uns geht es gut, recht gut, aber wie lange noch? Wundern Sie sich nicht, wenn wir über kurz oder lang alle zu Ihnen ausgewandert kommen.
Deutschland, letzte Bastion der ökonomischen Vernunft? Dass die Kanzlerin eine gewisse Konditionalität der Griechenlandhilfe für vernünftig hält, macht sie noch nicht zur brillanten Ordnungspolitikerin. Leider. Dass es in dieser Hinsicht in anderen Ländern noch schlimmer aussieht, kann mich auch nicht trösten. Was Deutschland angeht, glaube ich kaum, dass man von ökonomischer Vernunft sprechen kann, wenn die größte Fraktion im Bundestag, die Union, trotz Rekordsteuereinnahmen nicht daran denkt, die Steuern zu senken. Wenn das Ziel, ab 2015 Schulden zurückzuzahlen, nun schon wieder Makulatur ist. Wenn der flächendeckende Mindestlohn durch die Hintertür der verallgemeinerten tariflichen Mindestlöhne eingeführt und nun gesetzlich wird. Wenn Frauenquoten Gesetz werden sollen. Wenn sich alle darin überschlagen, Familien zu fördern, nur nicht ganz einig darin sind, was sie darunter verstehen. Wenn eine kopflos vollzogene Energiewende in ein gigantisches planwirtschaftliches Experiment, ein riesiges Subventionsprogramm mündet, das trotzdem Industrie wie Haushalte überfordern wird. Wenn der Weg zu mehr Zentralisierung in Europa mit immer neuen Institutionen gepflastert wird. Wenn der EZB der Interessenskonflikt zwischen den Aufgaben der Geldpolitik und der Bankenaufsicht zugemutet wird. Und so weiter. In Deutschland wird schlicht Klientelpolitik gemacht, ganz so, wie es die Modelle der politischen Ökonomie abbilden und voraussagen. Von ökonomischer Vernunft keine Spur, ich sehe nur politisches Kalkül. Wenn sich die Politiker noch ein wenig auch einer aufklärerischen Rolle verpflichtet fühlten, dann müssten diese beiden Dinge nicht notwendig auseinanderfallen. Müssten sie nicht. Tun sie aber.
Deutschland, subtiler Schmarotzer Europas? Dieses Thema hatte ich eben schon ganz kurz angesprochen. Dieser Vorwurf wird uns nämlich immer wieder gemacht: Deutschland, das sich jetzt zum ordnungs-politischen Lehr- und Zuchtmeister Europas aufspiele, sei ja überhaupt nur infolge jener Mechanismen so stark geworden, die die anderen so schwach gemacht hätten. Eine erste These, die man immer wieder zu hören bekommt, lautet: Die Lohnzurückhaltung, die geholfen hat, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und uns vom Schlusslicht in Europa auf die vorderen Plätze zu bewegen, sei im Grunde nichts anderes als eine „Beggar-thy-neighbour“-Policy. Wir hätten im Grunde nichts anderes als Lohndumping betrieben und den Nachbarländern auf unlautere Weise die Märkte abgejagt. Es stimmt, die Reallöhne haben sich in Deutschland lange nicht nach oben bewegt. Und die Lohnnebenkosten sind allmählich gesunken. Zum Glück! Der Weg dahin war schwer genug. Aber Dumping? Von Dumping kann bei den Niveaus, von denen wir hier sprechen, nun wahrhaftig nicht die Rede sein. Und wer überhaupt in solchen Kategorien denkt, der begreift Wirtschaft als ein festes Stück Kuchen, als ein Nullsummenspiel. Als ob der Kuchen nicht wachsen könnte! Also ob nicht andere auch erfolgreich sein können, wenn sie die richtige Politik machen!
Die zweite, so gängige wie falsche These lautet: Deutschland hat die Exportstärke seiner Industrie nur deshalb so ausbauen können, weil die Einführung des Euro eine reale Abwertung für Deutschland bedeutete. Soll heißen: weil die gemeinsame Währung schwächer gegen andere Währungen notiert, als es die D-Mark getan hätte. Ja. Aber erstens stand der Erleichterung des Exports natürlich eine Erschwernis des Imports durch die Unterbewertung gegenüber, der Erwerb von Rohstoffen wurde teurer und der Blick auf die Kosten umso dringlicher. Zumal die europäischen Zinsen, die für die Südländer eigentlich zu niedrig waren, was aber gewollt war und sie hätte ankurbeln sollen, für Deutschland im Umkehrschluss nicht passten. Für Deutschland war der Realzins deutlich zu hoch. Das hat bei uns die Investitionen belastet. Und genau deshalb waren die Strukturreformen und die Lohnzurückhaltung so wichtig, um wieder auf die Beine zu kommen.
Und zweitens wäre der Effekt lange nicht so stark gewesen, wie behauptet wird, wenn nicht gleichzeitig ein globaler Investitionsboom ausgebrochen wäre, der vor allem jenen Ländern etwas von seiner Dynamik abgab, die gefragte Kapitalgüter zu produzieren in der Lage waren. Deutschland war dazu in der Lage – wegen der traditionell starken Industrie. Mit dem Euro hatte das wenig zu tun. Um es vielleicht ein wenig polemisch zuzuspitzen: Den „Euro-Vorteil“ Deutschlands, wenn man ihn so nennen möchte, hatten wir gar nicht nötig. Wir hätten ihn nur gebraucht, um genug Devisen zur Finanzierung unserer Importe einzunehmen, wenn unsere Produkte nicht attraktiv gewesen wären. Waren sie aber.
Kurzum, der Euro-Vorteil war kein Vorteil. Man kann es nämlich auch so sehen: Der Euro hat uns schlicht und ergreifend schlechtere Auslandspreise und Verluste bei der Anlage unserer Exportüberschüsse beschert. Lassen Sie mich zur näheren Erklärung aus der Kolumne Thomas Mayers in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zitieren, des ehemaligen Chefvolkswirts der Deutschen Bank und Mitglieds der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft: „Sind die Produkte dagegen begehrt, dann ist die Nachfrage bei dem niedrigen Preis hoch und die Exporterlöse übersteigen die Ausgaben für Importe. Genau dies ist in Deutschland nach Einführung des Euro geschehen. Lag der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands zu den Zeiten, als sich die D-Mark noch gegen andere Währungen aufwerten konnte, im Schnitt der Jahre 1971 bis 1998 bei weniger als einem Prozent des BIP, so stieg er wegen des für Deutschland zu schwachen Wechselkurses der Gemeinschaftswährung auf 6,5 Prozent des BIP im Schnitt von 2006 bis 2013. Mit dem Euro verkaufen wir deutsche Produkte zu billig und zahlen zu viel für die Importe (weswegen wir zu wenige kaufen). Doch damit nicht genug. Die Einnahmen aus den Exportüberschüssen müssen im Ausland angelegt werden, und dabei machen wir gehörige Verluste. Dies kann man daran sehen, dass die kumulierten Überschüsse der Leistungsbilanz größer sind als die Steigerung des deutschen Nettovermögens im Ausland im gleichen Zeitraum. Diese Diskrepanz weist darauf hin, dass ein Teil der Exportüberschüsse durch falsche Anlage verloren ging.“
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mayers-weltwirtschaft/mayers-weltwirtschaft-euro-maerchen12554385.html
Wenn Deutschland nun also leider keine Insel der Seligen ist, keine Bastion der ökonomischen Vernunft und auch kein Schmarotzer, weder absichtlich noch unabsichtlich, was ist es dann? Weder Romantik noch Infamie sind angemessen. Deutschland ist ein Land, in dem die Menschen nicht dümmer und nicht klüger, nicht korrupter, nicht interessengeleiteter, nicht ordnungspolitisch reifer oder unreifer sind als woanders. Es ist ein Land mit einer traditionell starken Industrie, die auch gern stark bleiben möchte und vielleicht deshalb gelegentlich mit ihrer Lobbyarbeit die Regierung von noch schlimmeren populistischen Fehltritten abhält. Manchmal verleitet sie sie natürlich auch erst dazu. Das bleibt nicht aus.
Auch im großen Kanton im Norden ist die ökonomische Unvernunft verbreiteter, als einem lieb sein kann, der Süden hat sie nicht exklusiv gepachtet. Doch was Vernunft und Unvernunft wirklich bedeutet, worin sie genau besteht und wie man sie politisch am besten vermeiden kann, das fände man in Europa doch am liebsten heraus, indem man voneinander lernt. Der Trend geht freilich in eine Richtung, in der es mit dem Voneinanderlernen vorbei sein wird. Gleichmacherei und Zentralisierung sind an der Tagesordnung – es sei denn, dieser verhängnisvolle Trend, der schon sehr weit gediehen ist, wird durch die dysfunktionalen südeuropäischen Gesellschaften von unten korrodiert. Also ein Verrosten und Zerfallen der europäischen Institutionen statt eines Zusammenstoßes? Das ist auch kein sonderlich ergötzliches Bild. Wer Europa retten, genauer: vor sich selbst retten will, der muss dazu beitragen, dass Europa nicht mehr vorrangig als kollektives und kollektivierendes wirtschaftliches Projekt begriffen wird. Sondern als ein wettbewerbliches Projekt, bei dem man auch weiterhin voneinander lernen kann. Und vor allem als ein Projekt der Freiheit.
Ich danke Ihnen