Der Liberalismus bewegt sich, sieht man von dem selbst von liberalen Politikern in Europa geächteten Javier Milei in Argentinien ab, nicht auf der Siegerstraße. Ausgerechnet die Vereinigten Staaten von Amerika, lange Kämpfer für die Idee der Freiheit, entwickeln sich weg von liberalen Grundsätzen. Der Präsident des größten, auf dem Papier freiheitlichsten Landes der Welt, gewählt von einer Mehrheit der Stimmberechtigten, hält nichts von Freihandel, nichts von Meinungsäußerungsfreiheit (sofern sie Kritik an seiner Politik zum Ausdruck bringt) und nichts von demokratischen Wahlresultaten (wenn sie ihm, wie nach der ersten Amtszeit, eine Niederlage bescheren).
Bei uns in Europa verlieren Parteien, die sich als liberal verstehen, an Boden. In Deutschland ist die FDP aus dem Bundestag geflogen, und man fragt sich, ob sie den Weg zurück nochmals schaffen kann. In der Schweiz bangt die Partei FDP.Die Liberalen, die bei der Gründung des Bundesstaates 1848 alle Sitze in der Regierung, dem Bundesrat, besetzt hatte und seit 1959 immer mit zwei Personen in diesem siebenköpfigen Gremium vertreten war, um einen ihrer beiden Sitze. In Parteien von links bis rechts findet man zwar hin und wieder liberale Einsprengsel, aber diese können sich gegen die konservativen, staatsgläubigen und protektionistischen Strömungen in den eigenen Reihen nicht behaupten.
Warum ist die liberale Weltsicht so unpopulär? Es gibt dafür viele vordergründige, nur teilweise zutreffende Erklärungen: Das Personal sei nicht überzeugend, die Botschaft werde zu schlecht verkauft, die liberale Weltanschauung sei zu kopflastig und biete zu wenig fürs Gemüt, liberale Ideen dienten hauptsächlich der Wirtschaft. Immer mehr hört man auch, der Versuch, Wähler anderer Parteien anzulocken, oder – falls man Regierungsverantwortung übernimmt – das Eingehen vieler Kompromisse führten zu einem Wischi-Waschi-Programm ohne klares Profil. Wenn man nicht wisse, wofür eine Partei stehe, wähle man sie nicht.
Kein Schlaraffenland
Es gibt daneben aber noch einen grundlegenden strukturellen Grund für die Schwäche des politischen Liberalismus: Die liberale Gesellschaft ist kein Schlaraffenland.Liberale Antworten wirken, vor allem wenn man kurzfristig denkt, oft nicht attraktiv. Die meisten Wählerinnen und Wähler und die meisten Politiker denken aber kurzfristig, bestenfalls bis zu den nächsten Wahlen. Veritable Staatsmänner sind selten.
So sehr der Liberalismus ein Versprechen für die Zukunft mit ungeahnten Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens ist, so sehr ist das Leben in Freiheit in vielerlei Hinsicht eigentlich eine Zumutung. Es mutet den Menschen viel zu, es ist unbequem, anstrengend, unsicher und ungleich. Daher haben liberale Lösungen einen schweren Stand. Utopien und das Versprechen einer heilen Welt verkaufen sich besser als Realismus. Wer den Finger in Wunden legt, macht sich unbeliebt. Deshalb werden sich wohl kaum mehr als zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung auf den Liberalismus einlassen, zumal in Zeiten hohen Wohlstands und scheinbaren Friedens.
Eine der Zumutungen besteht darin, dass Liberale nur willkürlichen Zwang als Unfreiheit verstehen, nicht aber die Begrenzungen durch die Zwänge der Natur oder der Knappheit. Wer im Sport die 100 Meter nicht in zehn Sekunden schafft, ist nicht unfrei. Er wäre frei, es zu tun, aber seine Konstitution erlaubt es ihm nicht. Wer sich keine große Wohnung leisten kann, ist ebenfalls nicht unfrei. Er verfügt nur nicht über genügend Mittel.
Unerfüllte Wünsche
Die Wirklichkeit ist voller Einschränkungen. Zu ihnen zählt auch, dass man auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt; dass die Realisierung eines Vorhabens den Verzicht auf ein anderes Vorhaben verlangt, also viele Wünsche unerfüllt bleiben müssen; oder dass man Zinsen entrichten muss, wenn man heute konsumiert, aber erst morgen bezahlt.
Auch als Zumutung empfunden wird von vielen, dass Freiheit mit Ungleichheit einhergeht. Freiheit eröffnet zwar allen Chancen. Was aus ihnen wird, hängt aber von Einsatz, Geschick, Präzision, Innovation und Zufall ab. Zahlte man allen Menschen bei ihrer Volljährigkeit den gleichen Betrag, gäbe es schon am Tag danach große Unterschiede, weil die einen konsumieren, die anderen sparen, die einen geschickt und die anderen schlecht investieren würden. Das Versprechen, es werde allen gleich gut gehen, widerspricht der Idee der Freiheit. Eine liberale Ordnung sorgt lediglich dafür, dass für alle gleiche Regeln gelten.
Eine weitere Zumutung ist die Eigenverantwortung, das geradezu zwingende Pendant zur Selbstbestimmung. Sie bedeutet, dass man für sein Leben allein die letzte Verantwortung trägt. Das ist keine Absage an soziale Hilfe und eine kluge Sozialpolitik. Sie gehört nach meinem liberalen Verständnis zu den Staatsaufgaben. Aber sie sollte so angelegt sein, dass eine maximale Eigenleistung eingefordert wird und staatliche Unterstützung wirklich nur im Notfall gewährt wird. Dieses gute alte Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre ist leider längst in Vergessenheit geraten. Aus Respekt vor der Eigenverantwortung sollte man den Menschen auch nicht die Qual der Wahl abnehmen, die ihnen die Vielfalt des Angebots bereitet. Diese Entscheidungen sind oft mühsam und schwierig, aber sie entsprechen dem Bild des mündigen Menschen.
Menschen suchen Sicherheit
Eine letzte Zumutung des Liberalismus liegt in seiner Ergebnisoffenheit. Er beruht auf einem Urvertrauen in das Ergebnis spontaner Prozesse, weshalb er Versuch und Irrtum, dezentrale Entscheide, Auf- und Abstieg sowie Konjunkturschwankungen zulässt. Doch Menschen suchen Sicherheit. Die verspricht der Liberalismus nicht – nicht, weil er nicht will, sondern weil die Geschichte lehrt, dass es ein falsches Versprechen wäre. Die Gesellschaft ist nicht steuerbar.
All das macht den Liberalismus trotz seiner Erfolge für Wohlstand und Fortschritt zu einem sperrigen Produkt. Weil das Leben in Freiheit kein Honigschlecken ist, fühlen sich viele Menschen – wie einst der Philosoph Jean-Paul Sartre – zur Freiheit verurteilt und ziehen die freiwillige Knechtschaft einem Leben ohne willkürlichen Zwang vor, nach dem Motto: Der Staat wird schon wissen, was gut für mich ist. Weiß er aber eben nicht.
Man wird den Niedergang des Liberalismus nicht mit Beliebigkeit und einem Weichspülen des Programms aufhalten können, sondern nur mit Standfestigkeit. In diesem Sinne sollte man zu den „Zumutungen“, die er mit sich bringt, stehen und zeigen, dass sie sich lohnen und dass auf ihnen letztlich Wohlstand und Fortschritt einer freien Ordnung beruhen.
(Dieser Text ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines zuerst in dem Buch „Vive la Liberté“, herausgegeben von der Bonny Stiftung für die Freiheit in Bern, veröffentlichten Beitrags.)
Dieser Text wurde erstmals am 8. Oktober im Kölner Stadt-Anzeiger herausgegeben und wird hier mit freudlicher Genehmigung wiedergegeben.