Liberale seufzen gerne, die eigene Weltsicht sei zu wenig populär. Meine Antwort darauf wirkt dann oft ernüchternd. Sie lautet: Die liberale Gesellschaft ist kein Schlaraffenland. So sehr der Liberalismus ein Versprechen an die Zukunft mit ungeahnten Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens ist, so sehr ist das Leben in Freiheit eine Zumutung, unbequem, anstrengend, unsicher und ungleich. Daher haben liberale Lösungen einen schweren Stand. Utopien und das Versprechen einer heilen Welt verkaufen sich besser als Realismus. Wer den Finger in Wunden legt, macht sich unbeliebt. Deshalb werden sich 85% – 90% der Bevölkerung kaum auf den Liberalismus einlassen, jedenfalls nicht in Zeiten hohen Wohlstands und scheinbaren Friedens.
Eine der Zumutungen besteht darin, dass der Liberalismus die Begrenzungen durch die Zwänge der Natur oder der Knappheit nicht als Unfreiheit versteht. Sie sind Teil der Wirklichkeit. Zu ihnen zählt, dass man auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt, dass die Realisierung eines Vorhabens immer den Verzicht auf ein anderes verlangt, also viele Wünsche unerfüllt bleiben müssen oder dass, wenn wir etwas heute konsumieren, aber erst morgen bezahlen, das seinen Preis in Form des Zinses hat.
Auch als Zumutung empfunden wird, dass Freiheit mit Ungleichheit einhergeht. Sie eröffnet zwar allen Chancen. Was aus ihnen wird, hängt aber von Einsatz, Geschick, Präzision, Innovation und Zufall ab. Zahlte man allen Menschen bei ihrer Volljährigkeit den gleichen Betrag, gäbe es schon am Tag danach Unterschiede. Das Versprechen, es werde allen gleich gut gehen, widerspricht der Idee der Freiheit. Eine liberale Ordnung sorgt nur dafür, dass für alle gleiche Regeln gelten.
Eine weitere Zumutung ist die Eigenverantwortung, das Pendant zur Selbstbestimmung. Sie bedeutet, dass man für sein Leben allein die Verantwortung trägt. Kluge Sozialpolitik, die maximale Eigenleistung fordert und soziale Hilfe nur im Notfall anbietet, ist dennoch möglich. Aus Respekt vor der Eigenverantwortung sollte man den Menschen auch nicht die Qual der Wahl abnehmen, die ihnen die Vielfalt des Angebots bereitet.
Eine letzte Zumutung des Liberalismus liegt in seiner Ergebnisoffenheit. Er beruht auf einem Urvertrauen in das Ergebnis spontaner Prozesse, weshalb er Versuch und Irrtum, dezentrale Entscheide, Auf- und Abstieg sowie Konjunkturschwankungen zulässt. Doch Menschen suchen Sicherheit. Die verspricht der Liberalismus nicht – nicht, weil er nicht will, sondern weil die Geschichte lehrt, dass es ein falsches Versprechen wäre. Die Gesellschaft ist nicht steuerbar.
All das macht den Liberalismus trotz seiner Erfolge für Wohlstand und Fortschritt zu einem sperrigen Produkt. Weil das Leben in Freiheit kein Honigschlecken ist, fühlen sich viele Menschen – wie einst der Philosoph Jean-Paul Sartre – zur Freiheit verurteilt und ziehen die freiwillige Knechtschaft einem Leben ohne willkürlichen Zwang vor. Dem Liberalismus muss es also gelingen zu zeigen, dass sich die Zumutungen lohnen.

Dieser Beitrag erschien im kürzlich von der Bonny-Stiftung herausgegebenen Buch «Vive la Liberté». Es beleuchtet das liberale Weltbild im Kontext verschiedener Themen – von Jugend und Bildung über Staat, Politik und Sicherheit bis hin zu Wirtschaft, Mensch und Welt. Die Autorenliste liest sich wie ein «Who’s Who» der Schweizer Liberalen. Förderer der Progress Foundation können das Buch zum ermässigten Preis von 25 (statt 30) Franken zzgl. Versandkosten direkt bei der Bonny-Stiftung beziehen.