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05.04.2025

Ohne Vertrauen gibt es keinen Wohlstand. Gedanken zum Unterschied zwischen der Schweiz und der EU

Für neue Ideen und wirtschaftliche Prosperität braucht der Mensch Freiräume. Die kann es aber nur dort geben, wo eine Gesellschaft auf Vertrauen basiert statt auf strikten Regulierungen.

Oliver Zimmer und Heinrich Fischer
NZZ am Sonntag

Wer in einem langen Berufsleben viele unterschiedliche Firmen und Länder kennenlernen durfte, weiss um die grosse Bedeutung der Unternehmenskultur oder der Länderkultur für den Erfolg von Firmen und Staaten. Mit wie viel Offenheit, Selbstvertrauen und Handlungsbefugnis einem die Menschen begegnen, sagt viel über die vorherrschende Kultur aus.

Wie gut oder schlecht Staaten oder Unternehmen international abschneiden, hat dementsprechend viel mit dem aufgebauten Vertrauen im Staat oder im Unternehmen zu tun. Ohne eine Kultur des Vertrauens und der Selbstverantwortung gibt es keinen nachhaltigen Erfolg. Genau dies haben die Wirtschaftswissenschafter Douglass North (Nobelpreis 1993) und Daron Acemoglu und Simon Johnson und James Robinson (Nobelpreis 2024) nachgewiesen. Sie zeigen, dass Differenzen in den institutionellen Rahmenbedingungen zu grossen anhaltenden Wohlstandunterschieden geführt haben. Dabei kommt dem Vertrauen zwischen Staat und Bürgern eine Schlüsselrolle zu. Wo es fehlt, wird heftig reguliert, was zu Wohlstandseinbussen führt.

Am Ursprung von wirtschaftlichem Erfolg stehen Kundenbedürfnisse und Lösungsideen, die von Unternehmern zusammengeführt werden. Wirtschaftliche Produktivität und Wohlstand entstehen aus dem Wettbewerb um die beste Lösung. Ein hohes Mass an Vertrauen senkt die Transaktionskosten in sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen, steigert die Effizienz von Staat und Verwaltung und bildet ein notwendiges Element zur Ankurbelung der Wirtschaft. Dasselbe gilt für Unternehmen – auch dort sind Vertrauen zwischen Mitarbeitenden und Unternehmen und die daraus entstehenden Freiräume Grundlage für Innovationskraft, Effektivität und Effizienz.

Wo Vertrauen fehlt, wird reguliert

Denn Vertrauen ist das mit Abstand wichtigste Mittel zur Reduktion sozialer Komplexität (Niklas Luhmann). Auf Staaten oder Unternehmen appliziert heisst das: Je weniger sich die Beteiligten vertrauen, desto ausgiebiger wird reguliert. Und nach Douglass North ist Regulierungsdichte ein wesentlicher Hemmschuh für Innovation, dem wichtigsten Treiber von gesellschaftlichem Wohlstand und unternehmerischem Erfolg. Entlang dieser Erkenntnisse können wir auch die harsche Kritik des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi an der Flut an Regelungen der EU und ihrer vergleichsweise schwachen Innovationskraft und Wohlstandsentwicklung nachvollziehen. Ebenso auch, wieso die noch überschaubar regulierte Schweiz im weltweiten Innovations- und Wohlstands-Ranking seit Jahren Spitzenplätze belegt. Dies im Gegensatz zu Ländern der überregulierten EU.

Doch weniger Regulierung setzt Vertrauen in die eigenen Bürger oder Mitarbeiter voraus. In einem Staat oder Unternehmen ohne Vertrauen muss alles bis ins Kleinste geregelt werden. Und das ist ein Kernproblem der EU. Sie lähmt sich selbst mit den 23 000 Gesetzen, die sie bis dato erlassen hat, um 27 unterschiedlich gewachsene Staatsverständnisse zusammenzuhalten. Doch damit nicht genug: Die EU-Administratoren sind sogar stolz darauf, jeweils als Erste minuziös Einschränkungen für neue Entwicklungen gesetzlich zu regeln, meist noch bevor klar ist, wo Nutzen und möglicher Schaden dieser Innovationen liegen. Niemand soll sich aus ungeregeltem Freiraum einen Vorteil verschaffen können. Doch die Möglichkeit, sich durch Innovationen Vorteile zu erarbeiten, ist der Magnet, der die besten Ideen, die besten Köpfe und das nötige Kapital anzieht.

Die USA funktionieren umgekehrt; ebenso immer mehr auch China, wo für neue Ideen der Weg geebnet wird, bis dann später, wenn nötig, der Staat das Zepter übernimmt. Er gibt zunächst viel Freiraum und regelt erst, wenn erkennbar wird, wo genau Innovationen mehr Schaden als Nutzen anrichten. Ist es da verwunderlich, dass Microsoft, Apple, Google, Facebook, Amazon, Tesla, Nvidia . . . in den USA entstanden sind und nicht in Europa, wo die letzten neuen Champions unter den Firmen vor 50 und mehr Jahren gegründet wurden? Und muss es nicht nachdenklich stimmen, wenn 50 Prozent der Unicorns (das sind Startups, die eine Bewertung von über einer Milliarde Dollar erreichen) in den USA, 30 Prozent in China und 6 Prozent in der EU entstanden sind?

Schweizer Bürgerstaat als Erfolgsrezept

In der Schweiz vertrauen laut aktuellen Zahlen über 60 Prozent der Bürger ihrem Staat, was doppelt so viele sind wie in der EU. Der Grund für diese Differenz ist unschwer zu erkennen: Selbst- und Mitbestimmung, zwei Säulen der Schweizer Gesellschaftsordnung, begünstigen Selbstverantwortung und Mitverantwortung für das Ganze; sie bilden die Grundlage für Selbstvertrauen und für Vertrauen in andere. Und dieses Vertrauen ist der wichtigste Faktor zur Reduktion sozialer Komplexität. Und so schliesst sich der Kreis. Man begreift, warum doppelt so viele Schweizer Bürger und Bürgerinnen ihrem Staat vertrauen wie EU-Bürger der EU.

Die Schweizer Verfassung mit direkter Demokratie, Föderalismus mit Bund, Kantonen und Gemeinden und die subsidiäre Delegation der Entscheidungsmacht nach unten bis in die Gemeinden setzt auf Vertrauen in die Bürger und in deren Verantwortungsbewusstsein. Diese hochgradig produktiven Ressourcen – Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein – lassen sich nicht durch rhetorische Beschwörungsformeln herbeizaubern; sie verdanken sich Institutionen, die ihren Bürgern über lange Zeit ein hohes Mass an Autonomie gewährt haben.

L’État, c’est nous!

Dagegen gelten in der Europäischen Union Vertrauen und Selbstverantwortung nicht als Tugenden. Kommission und EU-Verwaltung setzen lieber auf den Primat der technokratischen Regulierung von oben. Dabei verwendet man insbesondere das Recht, oder was man darunter versteht, als Harmonisierungsmaschine. Die Gestaltungsmacht liegt hier nicht bei den Bürgern, sondern beim Europäischen Gerichtshof, der seit den sechziger Jahren als Treiber des EU-Supranationalismus auftritt. Wie keine andere Institution innerhalb der EU verkörpert das europäische Obergericht das institutionalisierte Misstrauen gegenüber demokratischer Mitbestimmung. Vertrauen gibt es hier lediglich innerhalb einer weltanschaulich homogenen Führungs- und Beamtenklasse, die alternative Lösungsansätze als Systemkonkurrenz betrachtet.

Dabei liegt das Hauptproblem nicht einmal beim Primat des EU-Rechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten, sondern an dem, was der Verfassungsrechtler Dieter Grimm als «Überkonstitutionalisierung» bezeichnet hat. Konkret gesagt: Das Problem liegt darin, dass der EuGH die europäischen Verträge (insbesondere die vier Grundfreiheiten) und Regulative dynamisch auf das Endziel eines europäischen Bundesstaates gerichtet auslegt. Dabei werden mithilfe eines formal unpolitischen Modus ständig politische Entscheide gefällt. So entsteht das genaue Gegenteil der von EU-Befürwortern behaupteten Rechtssicherheit.

Richard Ekins, ein in Oxford lehrender Berufskollege von Dieter Grimm, hat es grundsätzlich formuliert: «Viele Richter (. . .) betrachten sich als Teil des langen Marsches der Rechtsstaatlichkeit. Eher handelt es sich um eine Ausweitung der Richterherrschaft, die sich als Rechtsstaatlichkeit versteht.»

Quo vadis?

Man muss den definitiven Vertragstext für das Rahmenabkommen 2.0 nicht kennen, um zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Für die Schweiz geht es hier um weit mehr als ein paar überschaubare Vor- oder Nachteile bei Handel, Banking und Bildung. Ein institutionelles Abkommen käme einem Teilbeitritt ohne Stimmrecht gleich. Es ist deshalb unverständlich, warum sich die Aussenpolitiker unserer grossen Kammer – in einer den staatspolitischen Kern der Schweiz tangierenden Frage – gegen ein obligatorisches Referendum mit Volks- und Ständemehr ausgesprochen haben. Es stellt sich die demokratiepolitische Gretchenfrage: Haben wir noch den Mut, auf Vertrauen, Wettbewerb und Pluralismus zu setzen anstatt auf Stromlinienförmigkeit?

Oder mangelt es uns einfach an der Solidarität mit Europa, wie die EU-Befürworter bei jeder Gelegenheit klagen? Das beste Beispiel, um diese Frage zu beantworten, ist die Verteidigungsbereitschaft. Auf diesem Feld waren und sind sowohl die Schweiz als auch die EU Trittbrettfahrer der USA, doch nun hat sich die Friedensdividende in eine Investitionspflicht verwandelt. Auch bei diesem Thema bedeutet Solidarität mit Europa indessen nicht Anbindung an die wankelmütige EU, sondern Rückkehr zum Grundsatz: Solidarisch handeln jene, die ihre Hausaufgaben gründlich erledigen, anstatt bloss darüber zu reden.

Dieser Text erschien erstmals am 5. April in der NZZ am Sonntag und wird hier mit der freundlichen Genehmigung der Autoren und der NZZ wiedergegeben.