« … wenn jeder sich dahin mag treiben lassen, wohin ihn seine Privatneigung schiebt und wohin er von aussen gezogen wird, … dann lasse mans meinetwegen laufen, wie es geht und schlottert und lottert. … Alle, die jenseits der Landesgrenze wohnen, sind unsere Nachbarn, und bis auf weiteres liebe Nachbarn; alle, die diesseits wohnen, sind mehr als Nachbarn, nämlich unsere Brüder. Der Unterschied zwischen Nachbar und Bruder aber ist ein ungeheurer. Auch der beste Nachbar kann unter Umständen mit Kanonen auf uns schiessen, während der Bruder in der Schlacht auf unserer Seite kämpft.» Carl Spitteler, Unser Schweizer Standpunkt, 14. Dezember 1914
Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU sind materiell abgeschlossen. Die Verhandlungstexte und die Verträge liegen der Öffentlichkeit allerdings noch nicht vor. Man darf sie gespannt erwarten, um sich ein vollständiges Bild machen zu können. Dennoch liegen von strikten Gegnern einer stärkeren Anbindung an die EU und von glühenden Befürwortern bereits klare Positionsbezüge vor. Wie sieht es aber bei all jenen Schweizerinnen und Schweizern aus, die nicht klar einem der beiden Lager zugehörig sind und/oder sich nicht täglich mit EU-Fragen beschäftigen? Wie tickt also die schweigende Mehrheit, die in der Volksabstimmung über das neue Vertragswerk richten wird?
In der Bevölkerung stellt man eine verbreitete Ratlosigkeit zum Thema EU fest: Was bedeutet die offensichtliche Schwäche der einstigen EU-Zugpferde Deutschland und Frankreich für das Konstrukt? Wie sind die Streitereien innerhalb der EU – man denke etwa an Ungarn – einzuordnen? Wie wird sich die EU weiterentwickeln, wenn rechte Regierungen in den Mitgliedstaaten an der Macht sind? Wie entwickelt sich die EU sicherheitspolitisch, und was kann die Rolle der Schweiz in den absehbaren geopolitischen Veränderungen sein? Hat es angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtung und der Lage inmitten der EU längerfristig überhaupt einen Sinn, die institutionelle Eigenständigkeit zu verteidigen? Oder müssen wir dies angesichts der Perspektiven der EU sogar erst recht tun?
Ein beträchtlicher Teil der unschlüssigen Mehrheit der Bevölkerung zwischen den Polen möchte eine möglichst rationale Entscheidung treffen. Aber das fällt schwer, denn zu komplex ist die Materie, zu unklar ist, was Sachzwänge sind und was die Schweiz frei gestalten könnte, wenn sie nur wollte. Und nach all den Jahren zermürbender und wiederkehrender Debatten ist Resignation hinsichtlich der Sinnhaftigkeit, als Bürgerin und Bürger überhaupt noch Einfluss auf das Thema nehmen zu wollen, weit verbreitet. Daher werden letzten Endes viele eher mit dem Bauch als mit dem Kopf das Kreuzchen setzen.
Vor diesem Hintergrund soll hier der Versuch unternommen werden, einige tieferliegende Gründe für Grundstimmungen darzulegen, die dazu führen, einer institutionellen Anbindung an die EU eher befürwortend oder eher skeptisch gegenüberzustehen:
Erstens: Oft unterscheiden sich Befürworter und Skeptiker in ihren Erwartungen an den Staat. Die Befürworter, namentlich ein Teil der Wirtschaftsverbände, argumentieren regelmässig mit dem positiven Einfluss der institutionellen Anbindung auf das Bruttoinlandprodukt (BIP), während Skeptiker nicht die BIP-Maximierung als Hauptaufgabe des Staates ansehen, sondern die Erfüllung der Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger. In dieser zweiten Sicht ist ein allfälliger Wohlstandsgewinn gegen einen allfälligen Verlust an Identität, Lokalverbundenheit und politischer Mitbestimmung abzuwägen. Weil leider für eine solche Abwägung halbwegs gefestigte Informationen fehlen, ist es unmöglich, den Entscheid so rational zu treffen, wie es wünschbar wäre.
Zweitens: Verschiedene Teile und Schichten der Bevölkerung haben von der Wohlstandsmehrung der letzten 20 Jahre sehr unterschiedlich profitiert. Zugleich war die Bevölkerung auch in sehr unterschiedlichem Masse von den negativen externen Effekten des Wachstums, vor allem der Zuwanderung, betroffen. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Einstellungen zu den Versprechungen (und Befürchtungen), die mit einem neuen Rahmenvertrag verbunden sind.
Drittens: Befürworter und Skeptiker messen den überlieferten Prinzipien der politischen Organisation von Gemeinwesen eine gänzlich unterschiedliche Bedeutung zu. Während im EWR-Abstimmungskampf die Themen «elitärer Zentralismus» versus Gewaltentrennung, Subsidiarität und das in der Schweiz von unten nach oben gewachsene genossenschaftliche Staatsverständnis noch angesprochen wurden, sind sie heute in den Hintergrund gerückt. Ein zentrales Element stellt in diesem Zusammenhang die Rolle der obersten Gerichtsbarkeit dar: Hat sie, wie in der EU, das letzte Wort oder kommt dieses, wie in der Schweiz, den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern zu? Und gäbe es allenfalls für die Schweiz gute Gründe, von ihrem bisherigen Grundverständnis der Rolle der obersten Gerichtsbarkeit abzuweichen? Je nachdem, wie man dies alles sieht, wird man die institutionelle Anbindung unterschiedlich beurteilen.
Viertens: Grosse Unterschiede gibt es in der Einschätzung, wie sich die EU gegenüber der Schweiz im Falle eines Verzichts auf eine institutionelle Anbindung verhalten würde. Paradoxerweise erwarten die europhilen Anbindungsbefürworter im Falle einer Ablehnung des Vertrags ein feindseligeres Verhalten der EU als die Skeptiker. Wird der grosse Nachbar also von der Politik der Nadelstiche zu einer Politik fortwährenden Weichklopfens übergehen? Oder wird nach einer Phase der Verstimmung ein freundnachbarschaftliches Verhältnis möglich sein? Wird die EU fair mit der Schweiz umgehen und ihr zumindest all das anbieten, was er anderen Staaten ohne institutionellen Anschluss auch anbietet?
Fünftens: Auch der unterschiedliche Umgang mit den Medien spielt für die Haltung gegenüber der EU eine Rolle. Der öffentliche Diskurs ist zunehmend unübersichtlich und kaum zu kontrollierenden Einflussfaktoren (z.B. fake news) ausgesetzt. Traditionelle Medien haben stark an Deutungshoheit eingebüsst – nicht nur wegen ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass ein Teil der Bevölkerung sich nicht mehr für das öffentliche Geschehen interessiert (News-Deprivation). Die „sozialen“ Medien fördern den Herdentrieb und lassen zunehmend Bekenntnisse und Behauptungen an die Stelle von Argumenten treten. Verunsicherung und Desinteresse haben Folgen für die politische Psychologie. Bei den einen nähren sie den Instinkt, sich mit dem potenziell gefährlichen Nachbarn zu identifizieren, (vergleichbar mit dem Stockholm-Syndrom), bei den anderen verstärken sie die Neigung, sich ans Hergebrachte zu klammern – in jedem Fall erschweren sie die sachliche Diskussion über eine faire und produktive Nachbarschaft.
Sechstens: Während die Aussage «wir haben doch die gleichen Werte» immer häufiger als das Argument für die institutionelle Anbindung ins Feld geführt wird, sehen es die Skeptiker genau andersherum. Für sie sind die verinnerlichten europäischen Werte, etwa die Traditionen von Verfassungs- und Demokratielehren (Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung, echte demokratische Mitbestimmung, Menschenrechte), in der Schweiz besser verankert als in der EU, die dieses herkömmliche politische Institutionenwissen immer mehr in den Hintergrund drängt.
Siebtens: Befürworter und Skeptiker weisen unterschiedliche Zeithorizonte auf. Sehr schön zeigt sich das bei den Produktivitätsgewinnen. Die einen betonen die Produktivitätsgewinne des gemeinsamen Marktes mit einheitlichen Standards, die anderen die Produktivitäts- und Innovationsvorteile im Wettbewerb der Systeme. Zudem befürchten letztere Produktivitätsnachteile durch die bestehende und wohl weiter um sich greifende Überregulierung der EU. Anzunehmen ist, dass die Vorteile des Binnenmarktes zeitlich näher liegen, während sich die Vorteile des Systemwettbewerbs erst längerfristig zeigen dürften. Das macht verständlich, dass kürzerfristig orientierte Unternehmer und politische Verantwortungsträger, die gewählt werden wollen, sich mehr für erstere interessieren.
Achtens: Völlig offen ist die Frage, ob sich mit einer Zustimmung der Schweiz zum neuen Rahmenvertrag ein neues, robustes Gleichgewicht in der Beziehung zur EU einstellen würde. Skeptiker fürchten, dass sich die Schweiz namentlich durch die dynamische Rechtsübernahme auf eine schiefe Ebene in Richtung unaufhaltsam fortschreitende Souveränitätsabtretung begäbe (dazu noch verbunden mit der Gefahr, dereinst feststellen zu müssen, dass man den guten Zeitpunkt für Verhandlungen über eine Mitgliedschaft verpasst hat). Sieht man, wie die Trump-Regierung in ihrer ideologischen Fixierung auf MAGA fast täglich Recht bricht oder ritzt, seien es US-Gesetze, WTO-Verpflichtungen oder klassisches Völkerrecht, ist es kaum zu weit hergeholt, vom EUGH mit seiner ideologischen Fixierung auf die Vereinheitlichung des Binnenmarktes und die Einebnung der europäischen Unterschiede zu erwarten, dass er seine Interpretationshoheit in immer neue Lebensbereiche ausweiten wird. Befürworter sehen darin die «europäische Idee» verwirklicht, Skeptiker dagegen Exzesse eines «allmächtigen Richterstaats».
Neuntens: In geopolitisch unsicheren und kriegerischen Zeiten beeinflussen auch sicherheitspolitische Überlegungen die Haltung zum Verhältnis Schweiz-Europa. Befürworter einer näheren Anbindung an Europa verstehen diese oft auch als Signal für eine stärkere militärische Öffnung gegenüber der Nato. Skeptiker betonen dagegen die Vorteile einer verteidigungspolitischen Eigenständigkeit und Eigenverantwortung und wollen dies mit der wirtschaftlichen und politischen Eigenständigkeit gegenüber der EU unterstreichen. Zudem sehen sie in den in die nationalen Demokratien eingreifenden Tendenzen der EU und in der Behinderung des Wettbewerbs der Systeme letztlich einen destabilisierenden Faktor – nicht nur im irrlichternden Verhalten globaler Potentaten.
Jenseits der rund 30 Prozent, die heute schon klar für oder gegen die neuen EU-Verträge Position beziehen, liegen vermutlich rund 70 Prozent, die sich in den beschriebenen Grundstimmungen noch auf die eine oder andere Seite bewegen werden. Wie das auch immer kommen mag: Es ist der Charme und sicher auch die Qualität der direkten Demokratie, dass Entscheide eben nicht allein auf nüchterner Abwägung von Faktenlagen basieren, sondern auch von Emotionen, Wahrnehmungen und Neigungen gesteuert sind. Man kann sicher nicht behaupten, die Schweiz sei damit bisher schlechter gefahren als die angeblich rationaleren, sachlicheren parlamentarischen Demokratien.
Wie der deutsche Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte, lebt der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann. In der Schweiz sind diese Voraussetzungen noch ziemlich intakt. Zu ihnen zählt ganz wesentlich das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in jenes Staatswesen, in das sie zufällig hineingeboren worden sind. Lohnt es sich, ein Staatssystem mit hohem Vertrauenszuspruch zugunsten eines Systems mit weniger und zunehmend bröckelndem Vertrauen zu gefährden? Vielleicht ist dies sogar der grundlegendste Unterschied zwischen Befürwortern und Skeptikern – ob man diese Frage mit Ja oder Nein beantwortet.
Dieser Text wurde erstmals im Rahmen der Arbeitsgruppe fairer Bilateralismus publiziert und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autoren veröffentlicht. Eine gekürzte Version des Texts erschien zudem am 18. März 2025 in der NZZ.