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In den Medien
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30.01.2025

Holpriger Weg zum Bundesstaat

Die Gründung des schweizerischen Bundesstaates war ein holpriger Prozess - nicht nur politisch, sondern auch praktisch, wie die chaotische Anreise der ersten Parlamentarier zeigt. Das Buch «Ringen um Freiheit» beleuchtet die Geschichte des Schweizer Liberalismus und seine anhaltenden Herausforderungen.

Rolf Hürzeler
Die Weltwoche

Die Reise nach Bern war ein Fiasko. Zumindest für die zehn Aargauer National- und Ständeräte, die zur ersten Sitzung des Bundesparlaments fahren wollten. Sie machten sich am 5. November 1848 auf, um am Vorabend der konstituierenden Zusammenkunft anzukommen. Leider verpassten sie den ersten Kutschenwechsel. Beim zweiten fehlte der Postillion, sodass ein Halbwüchsiger das Gefährt übernehmen musste und es nachts in einen Acker fuhr. Sie trafen schliesslich um vier Uhr morgens in Bern ein und waren keineswegs die Letzten. Der Luzerner Kasimir Pfyffer schlief in seiner Kutsche ein, wurde in einer Remise deponiert und ging bis am folgenden Tag vergessen.

Diese Anekdoten illustrieren die Widrigkeiten, mit denen sich die Gründer des jungen Bundesstaates konfrontiert sahen. Die Verspätungen blieben natürlich politisch folgenlos, waren aber trotzdem kennzeichnend für den holprigen Weg zum Schweizer Bundesstaat. Die Autoren René Lüchinger, Peter Schürmann und Gerhard Schwarz erinnern in ihrem Buch «Ringen um Freiheit – Liberalismus in der Schweiz» an jene turbulente Zeit. Mit ihrem Band schlagen sie einen Bogen vom Ancien Régime bis zur jüngsten Geschichte mit dem EWR-Fiasko und dem Swissair-Grounding, die der Dominanz der mächtigen Freisinnigen Partei ein Ende setzten.

Bis heute hat sich der Liberalismus von diesen Zäsuren nicht erholt und scheint schwächer denn je: Hierzulande bedrohen ausgerechnet diejenigen Bewegungen die Freiheit, die am meisten von ihr profitieren – mit repressiver politischer Korrektheit und erpresserischen Empfindlichkeiten. Parallel dazu erstarken weltweit autoritäre Bestrebungen.

Die Autoren erzählen die Geschichte des schweizerischen Liberalismus anhand von Köpfen. So erinnern sie an den gebürtigen Preussen Heinrich Zschokke und dessen Kampfblatt Der Schweizerbote: «Du hast bürgerliche Freiheit, wenn du, so gut wie jeder, treiben kannst, was die Gesetze erlauben», hielt er fest und kämpfte unerschrocken gegen den reaktionären Katholizismus und städtische Patrizier. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Ignaz Troxler, der im Buch als «Wutbürger» charakterisiert wird. Dieser setzte sich für einen zentralistischen Staat ein, weil ein «Bund von 22 Ständchen ein Unding ist». Der Antagonismus zwischen Föderalismus und Zentralismus durchzieht die politische Auseinandersetzung bis heute. Mittendrin der Liberalismus, dessen unterschiedliche Strömungen zu beiden Seiten neigen.

Die Entwicklung zum Bundesstaat bürgerlicher Prägung erlebte laufend Rückschläge. Denn der Mut zur Willensnation fehlte zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie die Autoren unter Berufung auf den Historiker André Holenstein ausführen: «Die Schweiz ist eine Willensnation – des Auslands. Man könnte auch sagen, sie sei eine Willensnation ohne, beziehungsweise wider Willen.» So zwangen sie ausländische Mächte zusammen: Napoleon mit der Mediationsakte, der Wiener Kongress mit der Restauration, der britische Lord Palmerston mit einer Intervention nach dem Sonderbundskrieg für den Zusammenhalt des Landes.

Kritik am Richtungsstreit

Das Buch beschliesst ein Essay von Gerhard Schwarz, ehemaliger Wirtschaftschef der Neuen Zürcher Zeitung, über den Liberalismus im 21. Jahrhundert. Er plädiert für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Freiheit: «Richtig ist, dass sich Liberale anders als Anhänger anderer Weltanschauungen immer wieder neu hinterfragen und auch Selbstzweifel hegen.» In dieses Kapitel gehört die von Schwarz angeführte Kritik am aktuellen Richtungsstreit: «Die Liberalen wollten sich zu stark von den Nationalkonservativen abgrenzen und sind deshalb in dem von links angetriebenen Marsch von der Selbstverantwortungs- zur Anspruchsgesellschaft mitmarschiert.» Zusammengefasst: «Leistung sollte wieder zählen, statt verteufelt zu werden.»

Dieser Artikel erschien am 30. Januar in der Weltwoche und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Weltwoche wiedergegeben.