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01.12.2024

«Die Leute wissen nicht mehr, woher der Wohlstand kommt»

Gerhard Schwarz analysiert die Rolle des Liberalismus in der modernen Schweiz, während die FDP an Einfluss verliert. Was bedeuten liberale Ideen im 21. Jahrhundert?

Gerhard Schwarz im Interview mit Armin Müller
Tagesanzeiger

Der Liberalismus hat entscheidend zur Entstehung der modernen Schweiz beigetragen, die FDP war jahrzehntelang die prägende Partei des Bundesstaats. Heute sind die liberalen Parteien überall im Niedergang. Was Liberalismus im 21. Jahrhundert bedeutet, hat Gerhard Schwarz untersucht. Er war bis 2010 Leiter der Wirtschaftsredaktion der NZZ, heute ist er Präsident der Progress Foundation und Publizist.

Herr Schwarz, warum braucht es ein Buch über den Liberalismus in der Schweiz?

Die Leute wissen nicht mehr, woher der Wohlstand kommt. Dass er sehr wesentlich mit der relativ liberalen Ordnung zu tun hat und damit, was die Schweiz anders macht als andere Länder.

Das liberale Modell der Schweiz wird oft gelobt, aber von den gleichen Leuten auch ad absurdum geführt. Swissair, Credit Suisse, FDP-Politiker, die Staatshilfe fordern oder während Corona Lockdowns befürworteten. Liegt darin ein Problem der Liberalen?

Natürlich hat das dem Liberalismus extrem geschadet. Auf der anderen Seite finde ich es auch ein wenig unfair. Es gibt das Ideal und die Realität. Die katholische Kirche als Ideal ist das eine, wie sich die Menschen verhalten, etwas anderes. In jedem System gibt es Leute, die den eigenen Vorteil über alles stellen, die Sonntagspredigten halten und sich im Alltag anders verhalten.“ Aber am Schluss bleibt alles an der FDP hängen. Dabei waren diese Leute ja nicht alle in der FDP.

Haben liberale Parteien einen Nachteil, weil ihre Leute lieber in der Wirtschaft Karriere machen und die politische Arbeit an eine Art Söldner delegieren, während etwa linke Parteien viele intrinsisch motivierte Leute hat?

Ja. Viele in der FDP haben wenig Lust, sich politisch zu engagieren, weil sie in der Wirtschaft mehr gestalten können. Für SP-Leute bietet die Politik häufig die bestmögliche Karriere. Aber auch die SVP bot für jemanden wie Ueli Maurer eine Traumkarriere. Das war im 19. Jahrhundert anders, da gab es sehr viele liberale Überzeugungstäter. Wir haben da einen strukturellen Nachteil.

Lassen sich liberale Ideen im heutigen demokratischen System noch durchsetzen?

Das ist tatsächlich schwierig. Die Liberalen im 19. Jahrhundert waren ja lange keine Demokraten gewesen. Alfred Escher und andere mächtige Liberale haben ihre Ideen oft mithilfe des Majorzsystems durchgesetzt. Und umgekehrt gilt: Nicht jeder demokratische Entscheid ist ein liberaler Entscheid. Darum sollte man so wenig wie möglich der Demokratie und so viel wie möglich dem Einzelnen überlassen. Nur dort, wo es unbedingt nötig ist, einen kollektiven Entscheid zu fällen, braucht es eine Abstimmung. Es gibt vieles, was man einfach den Einzelnen überlassen kann, oder einzelnen Regionen. Ich bin ein grosser Anhänger des Föderalismus und für möglichst wenig Zentralisierung. Daher kommt auch meine EU-Skepsis.

Europa ist ein Thema, das die FDP spaltet.

Die FDP ist gespalten, weil man in guten Treuen unterschiedlicher Meinung sein kann. Bei vielen Themen gibt es liberale und nichtliberale Lösungen. Aber bei der EU geht es eigentlich um etwas anderes, nämlich den Konflikt zwischen Demokratie und Liberalismus. Die Anhänger der direkten Demokratie sind eher gegen eine stärkere Annäherung, die Wirtschaftsliberalen eher dafür, weil sie diesen grossen Markt sehen.

Wie stark ist die FDP letztlich abhängig davon, dass die großen Unternehmen eine Lösung mit der EU wollen?

Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Wirtschaft dafür ist, wenn man die Mehrheit nicht nach der Zahl der Mitarbeitenden, sondern nach der Zahl der Firmen berechnet. Für die FDP ist beides schwierig: Wenn sie Ja sagt, wird sie einen Teil der Wähler verlieren und wenn sie Nein sagt, den anderen.

Der Stadtzürcher Parteipräsident Filippo Leutenegger versucht ein Comeback der FDP. Er hat ein neues Programm lanciert, das sich an die Themen wagt, die die Partei spalten könnten, zum Beispiel die Zuwanderung. Finden Sie das gut?

Ja. Die arrogante Attitüde, nur die Vorteile der Zuwanderung zu betonen, hat der FDP sehr geschadet. Die Zuwanderung bringt Nutzen, aber wie fast alles auch Schaden. Wenn die Bevölkerung die Zuwanderung als Problem empfindet, dann sollte man nicht mit Statistik kommen. Als FDP sollte man fragen: Wie können wir die Zuwanderung so gestalten, dass die Nachteile möglichst gering bleiben?

Andere heikle Themen sind Umweltschutz und Klima. Wie kann der Liberalismus dem Vorwurf begegnen, dass er dabei passiv bleibt oder gar Lösungen verhindert?

Das haben wir Liberale verschlafen. Die Grünliberalen würde es nicht geben, wenn die FDP rechtzeitig etwas getan hätte. Denn hier gibt es ja durchaus liberale Lösungen: Emissionszertifikate, Lenkungssteuern und so weiter. Das sind aber oft kompliziertere Lösungen, deren Wirkung nicht klar abzuschätzen ist. Verbote und Grenzwerte sind kommunikativ einfacher.

Die FDP steht aber selber nicht immer hinter marktwirtschaftlichen Lösungen. Oft sind es FDP-Regierungsräte, die gegen «weniger Staat» opponieren.

Die FDP ist einzigartig in Europa, weil sie als liberale Partei 40 Jahre lang fast allein regiert hat. Deshalb ist dieser staatstragende Zug bis heute in der FDP sehr stark vertreten.

In der neuen Trump-Regierung soll Elon Musk den Staatsapparat der USA verschlanken. Der argentinische Präsident Javier Milei geht mit der Kettensäge auf Staatsrückbau. Was kann die Schweiz davon lernen?

Mehr Klarheit und mehr Mut. Es braucht die Überzeugung, dass wir als Liberale gute Lösungen haben. Leider fehlt die bei vielen Freisinnigen. Und es fehlt der Mut, ein wenig weiterzugehen und nicht nur ein bisschen an einem Schräubchen zu drehen. Aber es geht nicht nur um die FDP. Ich bin der Meinung, es gibt Liberale in fast allen Parteien, in gewissen Fragen sogar in der SP.

In den meisten Ländern sind die liberalen Parteien fast verschwunden. Blüht das auch der FDP?

Wenn sie so weitermacht wie in den letzten 15 Jahren, dann ja. Aber ich glaube, mit einem klaren liberalen Programm wird das nicht passieren.

Dieses Interview wurde am 30. November in der Sonntagszeitung des Tagesanzeigers publiziert und wird hier mit der freundlichen Genehmigung des Verfassers veröffentlicht.