Die Idee einer freiheitlichen Gesellschaft hat schon bessere Zeiten erlebt. Auf der grossen Weltbühne nähren starke Diktaturen, Krieg in Europa und das Zerbröckeln vieler Qualitäten der Demokratien Zweifel an deren Überlegenheit. Bündeln Diktaturen nicht erfolgreicher ihre Kräfte für strategische Ziele in Politik, Militär oder Wirtschaft? Unterminieren sie nicht mit Fake News Demokratie und Rechtsstaat? Darf man also dem demokratischen Entscheid noch trauen?
In der Schweiz nagen magere Wahlresultate der FDP und finanziell gewagte Abstimmungsresultate, die man vor Jahren für unmöglich gehalten hätte, am liberalen Selbstverständnis. Ist der Liberalismus, obwohl sich selbst extreme Linke und Rechte gern liberal nennen, zukunftstauglich? Sind Ideen aus dem 19. Jahrhundert nicht veraltet? Braucht es nicht einen neuen Liberalismus, ja ein neues Denken über Wirtschaft und Gesellschaft?
Solche Zweifel haben mit einer Überschätzung des Liberalismus zu tun. So ist, erstens, der Liberalismus weder links noch rechts und kaum mehrheitsfähig. Das war in der Schweiz schon im 19. Jahrhundert so, als der Freisinn unterschiedlichste Strömungen umfasste und seine Wahlerfolge lange dem Majorz verdankte. Zweitens unterscheidet sich der Schweizer Liberalismus, dessen Staatsverständnis ausserhalb der Schweiz weder verstanden noch akzeptiert wird, grundlegend von dem anderer Länder. Weil der Staat von unten nach oben aufgebaut ist, stellt er, solange er direktdemokratisch kontrolliert und von Milizpolitikern geprägt wird, weniger ein Feindbild dar als in anderen Ländern.
Drittens ist Liberalismus kein Wundermittel. Er verspricht nicht das Paradies auf Erden (und strebt es auch nicht an), er ist alles andere als perfekt, aber es gibt keine menschengerechtere Alternative zu ihm, weder in Theorie noch in Praxis. Der Liberalismus ist ergebnisoffen. Es geht ihm also, viertens, nicht um Ergebnisse, sondern um Regeln des Zusammenlebens. Wenn die Regeln die Spontanität nicht abwürgen, führen sie auf Dauer und im Durchschnitt zu besseren Resultaten, als sie ein Autokrat, ein Weisenrat oder eine gewählte Regierung mit Interventionen aller Art je erzielen kann.
Eine grosse, zerstrittene Familie
Dieser Liberalismus ist gerade für kleine Länder besonders zukunftstauglich. Zum einen sind dezentrale Strukturen angesichts von Ungewissheiten widerstandsfähiger als zentral gelenkte Systeme. Vielfalt und Non-Zentralität schaffen Resilienz. Zum andern sind die liberalen Anker Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Wettbewerb, Privateigentum, stabiles Geld und soziale Mindestsicherung weitgehend zeitlos. Sie haben sich bewährt und eignen sich auch zur Bewältigung von Problemen wie Migration oder Klimawandel. Liberale sollten diese Prinzipien nicht dem Zeitgeist opfern, sonst schaden sie ihrer Glaubwürdigkeit und verzichten auf die Lösungskraft des Liberalismus.
Unter den Faktoren, die neben dem Zufall den Erfolg der Schweiz möglich machten, seien zwei eingehender beleuchtet, die die Schweiz stark prägen: die Staatsform und die Wirtschaftspolitik. Mit der Verfassung von 1848, der Revision von 1874 und dem Initiativrecht von 1891 ging die Schweiz einen einzigartigen Weg des Liberalismus und der Volksrechte. Im Ausland fand er bei oppositionellen Kräften Zuspruch, aber nicht bei den Machthabern. Doch Europa war zerstritten, die Staaten bekriegten sich.
Das ist heute anders. Mit der EU entsteht so etwas wie eine grosse, wenn auch oft zerstrittene Familie. Dennoch gibt es keinen Grund für die einzige halbdirekte Demokratie der Welt, ihre Institutionen jenen parlamentarischer, dem Volkswillen gegenüber skeptischer Demokratien anzunähern. Für die meisten europäischen Politiker ist die direkte Demokratie ein Störfaktor. Das muss die liberale Schweiz aushalten, weil dieses sperrige Konstrukt ihr Freiheit und Wohlstand erlaubte. Wer wollte auf solche Treiber verzichten? Ob die Schweiz bei einer stärkeren Anbindung an die EU ihre Institutionen de facto bewahren kann, ist entscheidend für ihre Identität.
Zur liberalen Schweiz gehört auch Skepsis gegenüber allem Grossen und daher gegenüber dem Zentralismus. Das Land hat die Erfahrung gemacht, dass non-zentrale Strukturen Bürgernähe schaffen, Experimente zulassen, und, obwohl vermeintlich ineffizient, auf lange Sicht wohlstandsfördernd sind. Grund ist, dass der fiskalische Wettbewerb der Kantone und Gemeinden um Einwohner und Unternehmen die Politik diszipliniert; stets droht die Abstimmung mit den Füssen. Daran sollte festgehalten werden. Bejahung der Unterschiede, Wettbewerb auch in der Politik und Nähe der Entscheide zu den Betroffenen sind zutiefst liberale Positionen.
Die Eigenwilligkeit der Schweiz war verbunden mit grosser, sehr früh globaler Offenheit. Schweizer zogen wegen der Armut, aus Abenteuerlust und Unternehmertum in die Welt, gründeten Unternehmen, wurden dank ihren Kompetenzen reich, hielten aber den Kontakt zur Heimat oder kamen in späteren Jahren zurück. Schweizer Unternehmen gründeten wegen des kleinen Heimmarkts früh in der Nachbarschaft und in Übersee Niederlassungen. Zugleich schrieben Zuwanderer einen Teil der Schweizer Industriegeschichte. Sie integrierten sich, fanden Arbeit, arbeiteten sich hoch, gründeten Unternehmen. Die globale Vernetzung durch Auswanderung, Zuwanderung und Direktinvestitionen sollte weiterhin die Richtschnur schweizerischer Aussen(wirtschafts)politik bleiben.
Die Schweiz ist kein marktwirtschaftlicher Musterknabe. Doch obwohl sie an ordnungspolitischer Verwahrlosung krankt, steht sie besser da als andere Staaten, zumal ihre Nachbarn. Sie hält sich mit ihrer Mischung aus Arbeitsethos, teilweise liberalen Rahmenbedingungen und ökonomischem Hausverstand seit rund 150 Jahren sehr gut. Den Protektionismus und die Kartelle glich der Wettbewerbsdruck, den international tätige Unternehmen aus dem Ausland mitbrachten, etwas aus. Zudem waren Regulierung, Steuern und Staatsausgaben lange massvoll und die Behörden dienstleistungsorientiert. Dass die Schweiz eine der reichsten Nationen der Welt wurde, ist auch eine Leistung des Systems, der Politiker und des Souveräns.
In der Wirtschaftspolitik ist besonders klar, in welche Richtung jeder liberale Aufbruch heute gehen müsste:
- Das Unternehmertum sollte als Quelle von Wohlstand und Innovation anerkannt werden;
- Leistung sollte wieder zählen, statt verteufelt zu werden;
- das Eigentum sollte durch Recht und Stabilitätspolitik geschützt werden;
- der Staat sollte mittelfristig nicht mehr ausgeben, als er einnimmt;
- er sollte sich auf das Notwendige beschränken, so liesse sich eine Zwangsabgabenquote von unter einem Drittel des BIP erreichen;
- die Regeln des Zusammenlebens sollten von der Detailbesessenheit Abstand nehmen und sich auf wesentliche Prinzipien beschränken;
- der wirtschaftliche Wettbewerb bleibt das hervorragendste Entdeckungs- und Entmachtungsinstrument;
- der Fiskalföderalismus ist das unabdingbare natürliche Pendant dazu;
- der Freihandel sollte ohne Wenn und Aber hochgehalten werden.
Gleichzeitig sollten sich Liberale kein schlechtes Gewissen durch jene einreden lassen, die den Liberalismus von der Finanzkrise bis zur Klimaerwärmung für alles verantwortlich machen. Erschreckend viele Liberale stehen viel zu wenig für die Leistungen des Liberalismus ein. Der Wohlstand in den Industrieländern, die Befreiung von Hunderten Millionen Menschen in den Schwellenländern aus tiefer Armut, die in hundert Jahren verdoppelte Lebenserwartung, der massive Rückgang der Arbeitszeit oder die Kompetenz des Volkes, die Regierenden abzuwählen, verdanken sich alle mehr oder weniger dem Liberalismus.
Vor allem sollten Liberale aufhören, die Angleichung der Einkommen und Vermögen als besonders sozial anzusehen. Liberale Sozialpolitik soll den Lebensunterhalt der untersten Schichten durch deren eigene Anstrengung und, wo das nicht geht, durch die Solidarität von Mitmenschen und Gemeinschaft sichern, und eine Gesellschaft der Offenheit und Durchlässigkeit für Aufsteiger garantieren. Jede weitere Umverteilung ist weder liberal noch sozial.
Es braucht Kraft und Klarsicht
Leider sind die Liberalen den Weg zum semisozialistischen Wohlfahrtsstaat und zur Umverteilungsdemokratie mitgegangen, weil sie alle am wachsenden Wohlstand beteiligen wollten, weil sie den etatistischen Neigungen der Bevölkerung nachgaben und sie vor lauter Abgrenzung von den Nationalkonservativen in dem von links angeführten Marsch von der Selbstverantwortungs- zur Anspruchsgesellschaft mitmarschierten.
Für die Abkehr von den Fehlentwicklungen und die Rückbesinnung auf die zentralen Prinzipien des Liberalismus braucht es Mut, Kraft und Klarsicht beziehungsweise eine ordentliche Robustheit. Es braucht Mut zur Unmodernität. Statt nach Modernität zu gieren und unkritisch den Fortschritt zu beschwören, sollten die Liberalen die freiheitlichen, direktdemokratischen Grundlagen der langen Schweizer Erfolgsgeschichte sichern. Nicht jeder Wandel ist per se Fortschritt.
Es braucht ferner Kraft zu – vorübergehender – Unpopularität. Wohlfahrtsstaat und Verschuldung sind auf einem Niveau angelangt, dass es praktisch überall nicht mit einigen Mini-Reförmchen getan ist. Jede Sanierung verlangt schmerzhafte Einsparungen. Man muss ja nicht wie Javier Milei in Argentinien gleich die Kettensäge ansetzen. Selbst die Schweiz wird trotz der im internationalen Vergleich tiefen Verschuldung lernen müssen, dass neue Ansprüche andernorts Abstriche verlangen.
Schliesslich braucht es liberale Klarsicht.Der Kollektivismus tritt nämlich in immer neuen Masken auf, etwa jener des wohlwollenden Paternalisten, des Verteidigers von Inklusion und Identität oder des Klimaschützers. Die Vorstösse der «Totalitären mitten unter uns» (F.A. von Hayek) sind meist mit der Bejahung kollektiven Zwangs verbunden, als Folge der Verabsolutierung von oft legitimen, aber ohne Mass vertretenen Anliegen. Diese Bedrohung der demokratischen Gesellschaften des Westens von innen ist heute vielleicht grösser als die Bedrohung von aussen.