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12.11.2024

«Auch in unserer angeblich säkularisierten Zeit wird im Bereich der Politik fleissig gepredigt»

Oliver Zimmer, Autor des Buches «Prediger der Wahrheit», beschreibt im Interview die historischen und kulturellen Auswirkungen der Reformation auf das heutige Verständnis von Macht, Autorität und Wahrheit. Er beleuchtet zentrale Aspekte wie die Rolle der Epistokratie, die Macht des gedruckten Wortes und die Dynamik zwischen autoritären Strukturen und dem Streben nach individueller Freiheit. Das Gespräch zeigt, wie sich die gesellschaftlichen Umbrüche der Reformation in aktuellen politischen Diskursen und Machtfragen spiegeln.

Sarka Paska und Oliver Zimmer

Paska: Der Titel Ihres Buches «Prediger der Wahrheit» wirkt auf den ersten Blick ambivalent. Warum haben Sie diesen Titel gewählt, und welche zentralen Themen spiegeln sich darin?

Zimmer: Ein historisch informierter Blick löst die scheinbare Ambivalenz in Luft auf. Wir kommen alle aus tief religiösen Gesellschaften, in denen sich Wahrheit über religiöse Botschaften und Predigten erschliesst. Die Figur des Predigers, der die alleinige Wahrheit für sich und die Seinen beansprucht und seine Kritiker als Apologeten der Unwahrheit verunglimpft, hat uns nicht verlassen. Auch in unserer angeblich säkularisierten Zeit wird im Bereich der Politik fleissig gepredigt. Der deutsche Philosoph Odo Marquart hat in einem brillanten Essay argumentiert, in der Moderne sei die Religion durch die Geschichtsphilosophie – also den Glauben, die Geschichte bewege sich in eine bestimmt Richtung – ersetzt worden. Dabei sei der Gottesbeweis durch den Feindesbeweis abgelöst worden.

 

Paska: Ihr Buch beleuchtet die reformatorische Kultur der Wissensvermittlung. Inwiefern sehen Sie die Reformation als Wegbereiter moderner Machtverhältnisse, und wie prägen die Ereignisse der Reformationszeit die heutige politische und gesellschaftliche Ordnung?

Zimmer: Um 1500 begann das reformatorische Christentum den Zugang zur Wahrheit neu zu definieren: weg von der Kirchenhoheit und den autorisierten Dogmen. Dabei rückten mit der Heiligen Schrift Laien und Laienprediger ins Zentrum des Geschehens, vor allem dank dem Prinzip «sola scriptura»: Was nicht in der Schrift steht, ist nicht von Gott autorisiert und kann deshalb keinen Anspruch auf Wahrheit erheben. Auch dann nicht, wenn es von Priestern und anderen Kirchenvertretern so gepredigt wird. Damit waren Laien und Laienprediger dazu autorisiert, religiöse Grundsätze und Gewohnheiten in Frage zu stellen. Denken Sie an die Taufe, oder – im weltlichen Bereich – an die Leibeigenschaft oder an Grundsteuern. Dafür lieferte die Bibel keine Legitimation. Dennoch wurden sie von der Obrigkeit als von Gott gegeben bezeichnet. Die nun selbst zum Establishment gehörenden Reformatoren und viele ihrer Verbündeten reagierten autoritär auf die Herausforderung der Laien, indem sie den Spielraum der Bibelauslegung einschränkten (etwa über Katechismen) und sich mit der weltlichen Obrigkeit – also dem frühneuzeitlichen Staat – verbündeten.

 

Paska: Inwiefern haben die ideologischen Konflikte der Reformatoren mit anderen Strömungen wie zum Beispiel jener der Täufer das Verständnis von Freiheit und politischer Autorität geprägt?

 Zimmer: Autoritätskonflikte sind keine Erfindung des 16. Jahrhunderts. Die Vorstellung von den braven und machtlosen Untertanen des Altertums und Mittelalters, die erst mit der Reformation und der Französischen Revolution aufbegehren lernten, ist bei uns ja weit verbreitet, sogar in gebildeten Kreisen. Historisch gesehen handelt es sich dabei jedoch um einen Mythos. Was der Reformation ihre welthistorische Bedeutung verleiht, ist die Tatsache, dass sich hier ein religiös aufgeladener Konflikt (in dem es aber auch um ganz praktische Wahrheiten ging) mit einer Kommunikationsrevolution verband. Ohne Buchdruck und die dadurch ermöglichte rasche Verbreitung schriftlicher und bildlicher Botschaften wäre die Wirkung wohl regional begrenzt geblieben. Stattdessen prägte das Ereignis die gesellschaftliche Entwicklung in weiten Teilen der Welt bis heute. Dazu empfehle ich den Besuch des Reformationsdenkmals in Genf. Hier wird deutlich, dass wir es hier mit einem globalhistorischen Ereignis zu tun haben. Dieses Muster – Autoritätsverlust durch Demokratisierung der Deutungshoheit und autoritäre Gegenreaktion – wurde damals auf den Weg gebracht. Damit wurden weltliche und kirchliche Autoritäten, die sich mit Gott legitimierten, entzaubert. Ihr Status und ihr Machtanspruch waren relativiert. Luther, dieser geniale Populist, hat diese Entwicklung im Angesicht des Bauernkriegs wieder zu relativieren versucht. Er sagte den opponierenden Bauern, dass Gott nicht mit ihnen, sondern stets auf der Seite der Obrigkeit sei.

 

Paska: Die «Epistokratie», also die Herrschaft der Wissenden, spielt eine zentrale Rolle in Ihrem Buch. Welche Bedeutung hat der Begriff für den modernen Liberalismus und warum soll überhaupt jemand über andere «herrschen»?

 Zimmer: Die Forderung ist alt. Sie findet sich, philosophisch durchexerziert, schon bei Plato. Die Wissenden und Weisen sollen die Staatsgeschäfte lenken, im Interesse des Gemeinwohls. Irgendwie ist der Gedanke ja auch verlockend und naheliegend. Wer sass nicht schon in einem Gremium mit zehn oder mehr Personen und nervte sich ob der langen und komplizierten Diskussionen und Entscheidungswege. Dabei gingen uns vielleicht diese Fragen durch den Kopf: Wäre es nicht wunderbar, wenn man die Entscheidungsgewalt einem Dreiergremium anvertrauen könnte? Vorzugsweise einem, das unsere eigenen Vorurteile und Interessen teilt und diese dann, damit es auch allen einleuchten mag, als überlegene Vernunft bezeichnet?

Was den Liberalismus betrifft, so waren viele bedeutende und weniger bedeutende Liberale des 19. Jahrhunderts durchaus epistokratisch gestimmt. Man sah sich als «neue Aristokratie» des Talents. Es stand ja auch viel auf dem Spiel. Eine neue Rechts- und Gesellschaftsordnung befand sich im Aufbau, von alten und neuen Kräften gingen Widerstände aus. Doch die historische Situation war voller Spannungen und Widersprüche. Der Franzose François Guizot war ein entschiedener Epistokrat, der den zivilisatorischen Fortschritt von der Masse bedroht sah. John Stuart Mills Denken weist eindeutig epistokratische Züge auf. Anders sieht es bei Alexis de Tocqueville aus. Er wurde, mit zunehmendem Alter, zum Kritiker des epistokratischen Juste Milieu. Auch weil er schon immer wusste, dass Wahrheit auf dem Feld der Politik nur über die Anerkennung eines Pluralismus der Erfahrungen, Interessen und Werte zu eruieren sei.

 

Paska: Die Reformation wird oft als Befreiung von kirchlicher Autorität verstanden, doch in Ihrem Buch argumentieren Sie, dass sie zugleich neue Machtstrukturen geschaffen hat. Welche Lehren lassen sich daraus für heutige politische Umbrüche ziehen?

Zimmer: Das Problem ist keineswegs auf die Reformation und den Protestantismus beschränkt, aber das ist eine andere Geschichte, der ich im Buch ebenfalls nachgehe.

Die eigentliche Lehre der Reformation liegt für mich, wie soeben mit Bezug auf Tocqueville angedeutet, im politischen Pluralismus: im Zulassen des Widerspruchs, im Wettstreit der Argumente und Ideen. Und damit in Institutionen, die zum öffentlichen Widerspruch anregen statt diesen auf den rein privaten Bereich abzudrängen. Wo man den Wettstreit der Deutungen und Meinungen zu unterbinden sucht – und, im Extremfall, Andersdenkende als Feinde der Wahrheit stigmatisiert – regen sich radikale Bewegungen, was oft eine autoritäre Reaktion provoziert. Ein Teufelskreis. Um diesen zu vermeiden, sollte man zwei Grundsätze politischen Lebens akzeptieren: Freiheit ist mit dem Bedürfnis nach absoluter Kontrolle und der Vorstellung einer alternativlosen Entwicklung – denn darum geht es bei der Versuchung der Epistokratie – unvereinbar.