Manchmal geschieht es am helllichten Tag und völlig unerwartet. Eh man sich’s versieht, befleckt sich selbst der Bravste unter den Braven mit dem Makel des Rassismus oder Sexismus. Zum Beispiel in der Confiserie. Bis vor kurzem war es keineswegs anrüchig, geschweige denn gewalttätig, ein Meitlibei zu essen. Ja, das Meitlibei ist selbst für friedliebende Vegetarier geeignet. Es ist ein traditionelles Gebäck, das aus dem Bernischen kommt, wo es Meitschibei heisst. Als solches figuriert es im Inventar des «Kulinarischen Erbes der Schweiz».
Was es mit dem Meitschibei auf sich hat, wusste der Brotforscher Max Währen. Er definierte es im Jahr 1957 als ein fingerdickes, hufeisenförmig gebogenes bernisches Gebäck «ohne bisher erkennbare besondere symbolische Bedeutung». Das Wörtchen «bisher» scheint aus heutiger Optik von einer geradezu prophetischen Weitsicht des Brotforschers zu zeugen. Hat er schon 1957 geahnt, dass die Hüter der politischen Korrektheit rund 65 Jahre später auch über das Meitschibei zu Gericht sitzen würden?
Wie dem auch sei – eine Basler Bäckereikette hat jedenfalls gehandelt und aus dem vermeintlich sexistischen Meitlibei einen unverfänglichen «Glücksbringer» gemacht – kulinarisches Erbe hin oder her. Zu lästig waren für das Personal die herablassenden Kommentare an der Verkaufstheke geworden. Neu ist das sprachpolizeiliche Reinemachen im Süsswarenregal nicht. Vor zwei Jahren wollte ein «Komitee gegen gewalttätige Süssigkeiten» dem Mohrenkopf den Garaus machen und gleichzeitig die «Dekolonialisierung der Patisserie» einleiten, als wäre jeder, der einen Mohrenkopf herstellt, verkauft, isst oder auch nur das Wort in den Mund nimmt, ein gewalttätiger Rassist und Kolonialist.
Im Unterschied zum Mohrenkopf gibt es das sittenstrenge Komitee heute offenbar nicht mehr. Dabei gäbe es angesichts von Frauenschenkeli, Spitzbuben, Nonnenfürzen, Prussiens, Grittibänzen, Croque Monsieur, Zigeunerspiessen, Kosakenzipfeln, Têtes de Moine und vielem mehr im kulinarischen Bereich noch viel Arbeit für akademische Weltverbesserer, damit jeder diskriminierende Beigeschmack endlich aus den Küchen und Backstuben dieser Welt gefegt werde.
Ob die Welt dadurch besser würde, ist allerdings fraglich. Vielmehr löst die obsessive Tugendschau kein einziges unserer Probleme, sondern schafft im Gegenteil eine ganze Reihe von neuen. Seit «diversity» als eine Art säkulare Universalreligion interpretiert wird, dürfen sich fast alle aufgrund irgendeines identitären Merkmals diskriminiert fühlen und ihre Forderungen stellen. Selbst die Privilegiertesten der Privilegierten dürfen sich heutzutage aus ganzem Herzen benachteiligt fühlen, wie nicht zuletzt der Frauenstreik gezeigt hat.
Gleichzeitig stehen aber auch alle im Verdacht, selber rassistisch oder sexistisch zu sein, es sei denn, sie tragen die korrekte Gesinnung stets wie eine Monstranz vor sich her. Diese Art der moralischen Beweislastumkehr führt nicht zu einem friedlichen und gerechten Miteinander, sondern im Gegenteil zu einer zynischen, verbissenen, frustrierten und sich selbst eifersüchtig beäugenden Gesellschaft, die alle gegen alle ausspielt: Männer gegen Frauen, Arme gegen Reiche, Einheimische gegen Zugewanderte, Heterosexuelle gegen Homosexuelle, Korrekte gegen Nichtkorrekte.
Und so werden selbst Orte des kleinen Glücks wie eine Confiserie zur moralischen Kampfzone, wegen eines Produkts, das jahrzehntelang nie Anlass zur Klage gegeben hat. Man könnte sich doch auch einfach nur über so ein Meitlibei freuen. Aber im Reich der Tugendwächter wird die unbefangene Freude eben schnell zur Blasphemie.
Diese Kolumne ist ein Auszug aus dem Buch „Weder lechts noch rinks“ und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin veröffentlicht.