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12.03.2024

Der Liberalismus ist eine Zumutung

Der Liberalismus verlangt den Menschen viel ab. Das Leben in Freiheit ist unbequem und anstrengend, geprägt von Unsicherheit und Ungleichheit. Die liberale Gesellschaft verspricht kein Schlaraffenland, aber gerade deshalb ist sie menschlich.

Gerhard Schwarz
NZZ
Sich mit anderen zu messen, ist nicht immer angenehm. (Johann Jaritz /CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

 

Der Titel dieser Kolumne wird den Kritikern des Liberalismus gefallen. Sie diskreditieren fast jede liberale Idee als unvernünftig. Aber genau das ist mit dem Titel nicht gemeint. Er beruht auf der Überzeugung, dass eine freiheitliche Ordnung den Menschen zwar viele Unannehmlichkeiten zumutet, diese Zumutungen aber nicht unvernünftig sind. Sie sind realistisch und deshalb menschlich.

Die liberale Gesellschaft ist kein Schlaraffenland und verspricht es auch nicht. Deshalb haben liberale Lösungen einen schweren Stand. Utopismus verkauft sich besser als Realismus.

Heute konsumieren, morgen bezahlen

Eine erste Zumutung ist, dass der Liberalismus nicht nur die Zwänge der Natur, sondern auch die der Knappheit nicht als Freiheitsbeschränkungen, sondern als Rahmenbedingungen jeder freien Ordnung begreift. Dazu gehört, dass man auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt, dass die Verwirklichung eines Vorhabens den Verzicht auf andere Vorhaben erfordert, dass deshalb viele Forderungen nicht erfüllt werden können und dass „heute konsumieren oder investieren, morgen bezahlen“ einen Preis in Form von Zinsen hat.

Eine zweite Zumutung ist, dass Freiheit immer mit ungleichen Ergebnissen einhergeht. Freiheit eröffnet Chancen. Was daraus wird, hängt von Engagement, Können, Zuverlässigkeit, Präzision, Innovation und Zufall ab. Wie gleich die Ausgangssituation für alle auch sein mag, in einer freien Gesellschaft wird es am Tag danach wieder Unterschiede geben.

Gegen wohlerworbene Rechte

Der Liberalismus fordert also nicht die Gleichheit der Ergebnisse, sondern die Fairness der Regeln. Zugleich wendet er sich gegen die Erhaltung von Strukturen und Besitzständen. Jeder soll das, was er erreicht hat, durch kontinuierliche Leistung sichern, nicht der Staat.

Eine dritte Forderung, die Eigenverantwortung, bedeutet, dass die Menschen allein für ihr Leben verantwortlich sind und nicht vom Staat Leistungen verlangen können, um sich das Leben angenehmer zu machen. Das ist anstrengend, bedeutet aber keine Absage an eine kluge Sozialpolitik.

Diese muss ein Höchstmaß an Eigenleistung verlangen und darf nur subsidiär Sozialhilfe anbieten. Eigenverantwortung drückt sich auch darin aus, dass den Menschen die Qualen der Angebotsvielfalt nicht paternalistisch abgenommen werden. Und sich im Wettbewerb zu behaupten, ist auch eine Form der Eigenverantwortung.

Grundvertrauen in spontane Prozesse

Eine vierte, letzte Zumutung liegt in der Unberechenbarkeit liberaler Ordnungen. Sie sind gekennzeichnet durch Ergebnisoffenheit, dezentrales Eingehen von Risiken, das Wechselspiel von Versuch und Irrtum, das Zulassen von Höhen und Tiefen sowie Gelassenheit gegenüber den Schwankungen der Wirtschaft. Dahinter steht ein Grundvertrauen in das Ergebnis spontaner Prozesse. Doch die Menschen suchen nach Sicherheit. Der Liberalismus bietet diese nicht – nicht weil er nicht will, sondern weil die historische Erfahrung lehrt, dass dies nicht möglich ist.

Wirtschaft und Gesellschaft lassen sich nur bedingt steuern. Das macht den Liberalismus zu einem sperrigen Produkt, trotz seiner Erfolge für Wohlstand und Fortschritt. Das Leben in Freiheit ist kein Zuckerschlecken – aber eine bessere Alternative gibt es trotz aller Zumutungen zumindest auf dieser Welt nicht.