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05.09.2023

Zu viel Vertrauen in Zahlen

Empirische Ergebnisse werden in wirtschaftspolitischen Debatten oft für bare Münze genommen. Häufig suggerieren die Zahlen allerdings eine Präzision, die sie nicht liefern. Trotzdem ist das Zählen und Messen nicht wertlos – nämlich dann, wenn man es mit Demut betreibt und sich einige Einsichten vor Augen hält.

Gerhard Schwarz
NZZ
User:FraCbB, Public domain, via Wikimedia Commons
Zahlen helfen uns, den Überblick zu bewahren. (Bild: Indische Zahlen im Landbuch Kaiser

 

In wirtschaftspolitischen Debatten gelten empirische Ergebnisse oft als «Goldwährung». Zu wenige Menschen sind sich bewusst, dass viele dieser scheinbar hieb- und stichfesten und präzisen Resultate auf vielen Annahmen und Modellen beruhen, Präzision nur vorgaukeln und bestenfalls Annäherungen an die Realität darstellen.

In meiner letzten Kolumne habe ich gezeigt, dass die Welt gleicher geworden ist, wenn man sie nicht nur an den Einkommen misst, sondern an einer Fülle von Kriterien wie Gesundheit, Bildung und politischer Teilhabe. In einigen kritischen Reaktionen wurde behauptet, man könne Gleichheit gar nicht messen, andere unterstellten mir zu grosse Zahlengläubigkeit. Beides ist falsch.

Gleichheit ist messbar

Zum einen: Gleichheit kann man messen, man muss aber sagen, welche Gleichheit man meint. Für die Einkommensverteilung ist der Gini-Koeffizient das Standardmass. Er schwankt zwischen 0 und 1, den unrealistischen Polen absoluter Gleichverteilung, bei der alle Personen das gleiche Pro-Kopf-Einkommen erzielen, und absoluter Ungleichverteilung, bei der nur eine Person ein Einkommen erhält und alle anderen keines. Das Mass ist ein Konstrukt mit Schwächen – allein über den Einkommensbegriff könnte man lange streiten –, aber eine gewisse Vorstellung kann es vermitteln.

Zum anderen: Ziel des Beispiels, dass sich je nach Kriterium ein anderes Bild der Gleichheit ergibt, war es, mehr Skepsis gegenüber Zahlen anzumahnen, als sie Medien, Politik und Wissenschaft, die es besser wissen müsste, praktizieren. Was in der Ökonomie als Empirie bezeichnet wird, ist meist nicht das Beobachten und Zählen eindeutiger Fakten, sondern basiert auf Modellen, Definitionen, Annahmen oder Umfragen. Man denke an all die Studien, in denen das Bruttoinlandprodukt (BIP) eine wesentliche Rolle spielt, und an die wirtschaftspolitischen Ziele, die an das BIP geknüpft sind, etwa die Maastricht-Kriterien.

Der Durchschnitt ist oft wenig aussagekräftig

Trotzdem ist das Zählen und Messen nicht wertlos – nämlich dann und nur dann, wenn man es mit grosser Demut betreibt und sich einige Einsichten vor Augen hält. Erstens lassen sich viele den Menschen besonders wichtige Werte wie Glück, Freiheit oder Sicherheit wegen ihrer Komplexität nur schwer quantitativ erfassen.

Zweitens sagen die vielfach verwendeten Durchschnitte wenig über die Spannbreite aus. Ob von zwei Personen eine 100 und die andere 0 oder die eine 51 und die andere 49 verdient – der Durchschnitt ist beide Male 50. Auch der Median, der eine Gruppe genau in der Mitte teilt, ist nicht aussagekräftiger.

Drittens suggerieren die meisten Zahlen eine Präzision, die sie nicht liefern. Da wird gejammert, wenn ein Rückgang des BIP um 0,2 Prozentpunkte prognostiziert wird, und man reagiert darauf, wie wenn es ein naturwissenschaftlicher Wert wäre.

Besser ungefähr richtig als präzise falsch

Viertens müssten wegen der Unsicherheit der Zahlen die in der Ökonomie so beliebten Ranglisten mit viel mehr Vorsicht genossen werden, erst recht, wenn die Abstände klein sind. Vermutlich krankt die Ökonomie heute im Gegensatz zu früher nicht an zu wenigen, sondern an zu vielen Zahlen und Statistiken. Dadurch ist, zumal an den Finanzmärkten, aber auch in der Wirtschaftspolitik, zu viel Vertrauen gegenüber Modellen und Zahlen entstanden.

Deshalb wäre, fünftens, John Maynard Keynes’ berühmtes Diktum die wichtigste Einsicht: Man handelt besser «roughly right than precisely wrong» und übertreibt es nicht mit der Zahlengläubigkeit.