
Bevor wir vom Tsunami der CS-Krise, ihrer notfallmässigen Bewältigung und deren mehrheitlich populistischer Aufarbeitung überschwemmt wurden, war in der wirtschaftlichen Diskussion der Schweiz der Fachkräftemangel ein zentrales Thema. Er wurde so sehr «zelebriert», dass sich Skepsis einstellt.
Erstens ist Fachkraft ein Allerweltswort, das ziemlich alles umfasst, den Buschauffeur, die Assistenzärztin, die Servicekraft, den IT-Spezialisten, den Bauarbeiter. Jeder versteht etwas anderes darunter. Und was heisst Mangel? Wenn sich auf eine Ausschreibung nur fünf statt zwanzig Leute melden, oder eher, wenn man händeringend ein relativ enges Profil sucht und monatelang niemanden findet?
EIN VAGES LEIDEN
Das Jammern über den Fachkräftemangel wird so zum Ausdruck eines vagen Leidens daran, dass man Arbeitskräfte mit dem gewünschten Kompetenzprofil nicht oder nicht schnell genug findet – jedenfalls nicht zu den Gehältern, die man bereit ist zu zahlen, und zu den Arbeitsbedingungen, die man bieten kann.
Zweitens ist der Fachkräftemangel zwar derzeit wieder besonders en vogue, aber soweit ich mich zurückerinnere, war er immer ein Thema. Entweder handelt es sich daher um ein strukturelles Problem – oder um eine Fehldiagnose. Wenn weltweit drei Viertel der Unternehmen über Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Fachkräften klagen, weist das in die gleiche Richtung.
Die Schweiz liegt mit 74 Prozent sogar leicht unter dem globalen Durchschnitt. In Österreich, Deutschland und Frankreich ist die Mangellage – trotz zum Teil höherer Arbeitslosigkeit – noch stärker, in Italien kaum schwächer. Vor diesem Hintergrund ist der Versuch, den Mangel mittels Zuwanderung zu beheben, fragwürdig.
In der Medizin holt sich die Schweiz Fachkräfte aus Deutschland und Österreich, die ihrerseits in Polen, Tschechien, Ungarn und Rumänien rekrutieren. Am Ende dieser Sogstrategie herrscht überall «Fachkräftemangel». Das ist nicht nachhaltig.
MANTRA VON DEN BILDUNGSAUSGABEN
Überhaupt wirken, drittens, die Lösungsvorschläge oft wenig überzeugend, etwa das Mantra der weiteren Steigerung der Bildungsausgaben. Die Schweiz schöpft ihr Begabungspotenzial bereits gut aus. Man müsste vielleicht die finanziellen Anreize verschieben, etwa im akademischen Bereich weg von den Geistes- und Sozialwissenschaften hin zu den Mint-Fächern.
Relativ unproblematisch ist die Befriedigung des Fachkräftebedarfs in der Schweiz mittels der über 300 000 Grenzgänger. Allerdings verschärft man auch hier den Fachkräftemangel in den Nachbarregionen, die nicht mehr im gleichen Ausmass wie früher für das Arbeitsplatzangebot dankbar sind.
ANDERE REZEPTE GEFRAGT
Um den Fachkräftemangel dauerhaft zu beheben, müsste man auf kapitalintensivere Produktion setzen, auf bessere Nutzung des Arbeitskräftepotenzials dank weniger Teilzeit, die stärkere Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und längeres Arbeiten im Alter.
Wenn man dagegen über Jahrzehnte dem Fachkräftemangel mittels Zuwanderung begegnet, muss man sich fragen, ob dies tatsächlich Zeichen eines besonders attraktiven Standorts ist oder ob man nicht eher bei der Wertschöpfung über die Verhältnisse lebt, die der Standort hergibt. In Anlehnung an die ökologische Terminologie könnte man sagen, der Fussabdruck der Schweiz auf dem Arbeitsmarkt drohe zu gross zu werden.