ZÜRICH Die Schweiz hat ein von langer Hand geplantes Rahmenabkommen mit der EU platzen lassen.Was sollte Brüssel daraus lernen? Wir haben bei Gerhard Schwarz, Chef der Schweizer Denkfabrik Progress Foundation, nachgefragt.
Herr Schwarz, vor fünf Jahren haben die Briten für den Brexit gestimmt. Nun haben die Schweizer ein Rahmenabkommen mit der EU platzen lassen, das 120 Abkommen zusammenführen und modernisieren sollte, um die Beziehungen zukunftsfest zu machen. Vergrault die EU ihre Freunde?
Dass man mit der Schweiz eine ähnliche Erfahrung macht wie mit den Briten, müsste bei der EU zu einer kritischen Selbstbefragung führen. Die EU kann sich enorm stur stellen. Nun hat sich die Schweiz endlich zu einer klaren Haltung durchgerungen. Dass wir unanständig lange sieben Jahre verhandelt haben, hat damit zu tun, dass das Land in der Frage, wie nah man der EU sein will, gespalten ist. Es war mal nahe bei 50/50, heute dürften sich sicher mindestens 60 Prozent gegen eine zu enge Bindung aussprechen.
Ist das Scheitern des Abkommens ein Zeichen der Entfremdung?
Das Verhältnis der Schweiz zur EU ist seit Jahrzehnten ein extrem schwieriges. Das hat mit dem völlig anderen Staatsverständnis zu tun. Das Volk entscheidet nicht nur alle vier oder fünf Jahre über die Leute, die man ins Parlament wählt, sondern das Volk entscheidet bei allen Dingen irgendwo mit oder kann mitentscheiden. Da sind die Nachbarländer weit davon entfernt, und durch die zusätzliche Ebene der EU wird die Entfernung gewissermaßen noch größer. Dass es in der Schweiz jetzt mehr Animositäten gegenüber EU-Bürgern gibt, erwarte ich nicht, es wäre auch geradezu absurd. Ich befürchte aber, dass es Nadelstiche vonseiten der EU geben wird.
Manche Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland haben aber das Gefühl, in der Schweiz nicht mehr so gern gesehen zu sein. Muss das Land nach dem Scheitern des Rahmenabkommens nicht die Abwanderung von Arbeitskräften fürchten?
Es kommen immer noch jährlich einige Zehntausend mehr Menschen ins Land, als ab- bzw. zurückwandern. Dass sich das umkehrt, würde mich sehr überraschen. Am Schluss ist doch die wirtschaftliche Situation entscheidend, solange wir attraktive und gut bezahlte Arbeitsplätze anbieten, kommen die Leute.
Verliert das Friedens- und Wirtschaftsprojekt EU grundsätzlich an Anziehungskraft?
Für die Kriegs- und erste Nachkriegsgeneration war das ein emotional unglaublich starkes Projekt. Für die jüngeren Generationen gilt das nicht im gleichen Maße. Zugleich werden die Krisen und Spannungen, vor allem im wirtschaftlichen Bereich – Griechenland-Krise, Euro- Krise und jetzt Corona – ja nicht weniger. Auch ist die EU durch die Erweiterung immer heterogener geworden, also sind interne Reibereien fast natürlich. Man denke an Polen, Ungarn usw. Ich halte die EU tatsächlich für weniger attraktiv als früher, aber immer noch für attraktiv und für wichtig.
Auch für die Schweiz?
Die Schweiz ist eines der globalisiertesten Länder der Welt, obwohl sie keinen Zugang zu den Weltmeeren hat. Daran sollte sie festhalten, und das sollte sie weiterentwickeln. Die EU ist Teil der Welt. Leider ist die EU nach innen, also im Binnenmarkt, marktwirtschaftlich, nach außen aber sehr protektionistisch, gar nicht liberal, sondern abschottend. Wenn die EU ihre Hürden ein bisschen tiefer legen würde, würde das nicht schaden, weder der EU noch ihren Partnern.
Sie haben die schweizerische und die österreichische Staatsbürgerschaft, sind also auch EU-Bürger – welches grundlegende Problem der EU sehen Sie aus dieser Position?
Die EU kämpft mit einem Paradox. Einerseits will sie den Nationalstaat überwinden, auf der anderen Seite aber entwickelt sie sich immer mehr zu einem Nationalstaat auf höherer Ebene. Da ist zum einen die Währungsunion, wenn auch nicht für alle Mitglieder, und zum anderen geht es zunehmend in Richtung Fiskalunion. Am Schluss haben wir Vereinigte Staaten von Europa, und das ist dann eben auch ein Nationalstaat, nur ein größerer Nationalstaat. Ich glaube, dass die nachhaltigere Konstruktion nicht ein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund wäre.