Die Schweiz war lange Zeit republikanisch und demokratisch in einem monarchistischen Umfeld, ohne Kolonien in einem durch und durch kolonialistischen Europa, liberal und marktwirtschaftlich inmitten von konservativen und interventionistischen Staaten, und sie war neutral zwischen den Fronten. Eine solche Eigenständigkeit ist nicht einfach zu leben. Sie verlangt Kraft, die Bereitschaft, die Konsequenzen der Alleinstellung zu tragen, und eine realistische, unverkrampfte Bejahung des Kleinstaates.
Wer in und an diesem Kleinstaat jenes Unbehagen empfindet, jenes Gefühl, «im Kleinstaat stehe man abseits von der Geschichte», das Karl Schmid so treffend diagnostiziert und beschrieben hat, wird kaum die Zukunft der Schweiz sichern, sondern eher die Zukunft eines Landes, das viel von seiner Seele verloren hat. Wer dagegen die Weiterentwicklung traditioneller Eigenheiten und Erfolgsfaktoren des Landes vorantreibt, wird mithelfen, dass die Schweiz eine Zukunft hat. Wer, wie es Herbert Lüthy schon 1961 scharfsinnig getan hat, die «Schweiz als Antithese» sieht, verfällt damit ja nicht einer undifferenzierten Sonderfall-Rhetorik und will das Land auch in keiner Weise glorifizieren.
Besonderheiten als Wesensmerkmale
Diese Schrift ist somit nicht angekränkelt vom Leiden am Sonderfall sowie am Kleinstaat und dem daraus folgenden Bemühen um eine bewusste oder schleichende Anpassung an die grossen Strömungen. Sie beruht vielmehr auf drei Überzeugungen:
1 – Die Schweiz war und ist, sosehr sie in der Mitte Europas liegt und sosehr sie Teil der Geografie, der Geschichte und der Kultur dieses Kontinents ist, zugleich eine Aussenseiterin. Sie ist nicht eine Spielart Deutschlands, Frankreichs, Italiens oder Österreichs, sondern ein Land, das einige zum Teil über Jahrhunderte in deutlicher Unterscheidung zum Umfeld gewachsene Besonderheiten als Wesensmerkmale versteht und pflegt. Darin liegt nichts Verwerfliches, nichts Überhebliches, nichts Feindseliges – höchstens etwas gelegentlich Unbequemes. Zwar verbindet die Schweiz vieles vor allem mit den Nachbarn: die Sprachen, Religionen, Kulturen, Landschaften. Aber obwohl sich jeder Staat als etwas Besonderes sieht, ist die Schweiz wegen ihres politischen Gefüges tatsächlich mehr ein Sonderfall als andere Staaten.
2 – Es ist gerade dieses eigenartige und eigenwillige System, das nicht allein, aber doch zu einem grösseren Teil, als es die Kritiker wahrhaben wollen, die Erfolgsgeschichte der Schweiz erklärt. Die Schweiz ist reich, die Durchschnittseinkommen und Durchschnittsvermögen sind hoch, die Wohlstandsindikatoren für die untersten 10 Prozent der Bevölkerung liegen ebenfalls deutlich höher als in den meisten anderen Ländern der Welt.
Der wahre Reichtum liegt aber im nicht greifbaren, im nicht tangiblen Kapital. Dazu zählen oft als typisch schweizerisch genannte Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Genauigkeit, Sorgfalt, Qualitätssinn, Verlässlichkeit, Sauberkeit, Ordnungsliebe, Diskretion, Bescheidenheit, haushälterischer Umgang mit (natürlichen) Ressourcen und Traditionsbewusstsein. Noch mehr als dieses mentale Swissness-Paket zählt dazu jedoch das politisch-soziale System. Dieses System darf natürlich nicht kritiklos überhöht werden, es hat seine Mängel und Tücken. Aber sosehr in der Geschichte der Völker, auch jener der Schweiz, vieles Zufall, Glück und Fügung ist, sosehr kamen institutionelle und mentale Besonderheiten unterstützend dazu.
Daher wäre es eine Selbstschädigung sondergleichen, dieses System eindämmen oder gar aufgeben zu wollen. Auf dieses System lassen sich nicht nur die wirtschaftlichen Erfolge und 200 Jahre ohne Kriegführung zurückführen, sondern vor allem auch das ungewöhnliche Mass an politischer Freiheit, das die Schweizerinnen (allerdings erst ab 1971) und Schweizer geniessen. Das System gewährt ihnen ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Vermögens mehr politische Mitbestimmung und Mitgestaltung als irgendein anderes real existierendes System auf der Welt. ›››
3 – Die nüchterne Bejahung des Sonderfalls ist nicht mit Selbstgefälligkeit und einer Verklärung des Status quo zu verwechseln. «Tempora mutantur, et nos mutamur in illis» (Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen) gilt heute nicht weniger als vor bald 500 Jahren, seitdem dieses lateinische Sprichwort belegt ist. Was in der Vergangenheit Erfolg gebracht hat, entspricht oft nicht mehr den Anforderungen der Gegenwart. Doch ganz im Sinne der Nachhaltigkeit müssen die Institutionen deswegen nicht entsorgt oder so umgestaltet werden, dass sie dem, was überall gilt, möglichst ähneln. Vielmehr geht es darum, mittels Reformen den Wesensgehalt dieser Institutionen zu erhalten und sie dabei nicht nur zukunftstauglich zu machen, sondern in die Zukunft zu überführen. Man kann den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mit den Strukturen und Methoden des 20. oder gar des 19. Jahrhunderts begegnen, sehr wohl aber mit weiterentwickelten und reformierten Instrumenten.
Liberale im Sandwich
Friedrich August von Hayek hat die Sandwichposition, in die der Liberale gerät, der sich mit der Weiterentwicklung einer freien Gesellschaft befasst, im Aufsatz «Die Intellektuellen und der Sozialismus» aus dem Jahre 1949 klarsichtig erkannt: «[Er] erscheint daher den Intellektuellen, die ihrer Phantasie freieres Spiel lassen, als ein zaghafter Verteidiger des Bestehenden, während die Praktiker ihn gleichzeitig als weltfremden Theoretiker betrachten werden.» Es geht nicht um rückwärtsgewandte Bewahrung um der Bewahrung willen, sondern – ganz im Sinne des berühmten Satzes des Fürsten Tancredi im Roman «Der Leopard»: «Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert» – um Reformen der Erfolgsfaktoren, damit diese in ihrem Kern bewahrt werden können. So lautet die Devise dieses Buches.