(NZZ – Feuilleton – Donnerstag, 1. November 2018, Seite 36)
Der Liberalismus steckt nur scheinbar in einer Krise. Seine Vorzüge lassen noch seine jüngsten Herausforderer alt aussehen.
Der Begriff hatte einen guten Klang. Viele mochten das Lebensgefühl, das er zum Ausdruck bringt, und beriefen sich mit Stolz auf ihn. Er inspirierte (in der Eidgenossenschaft, aber auch anderswo) ganze Volksbewegungen und -parteien. Heute jedoch wirkt er oft verbraucht und klingt irgendwie hölzern: der Liberalismus. Woran liegt es, dass er es so schwer hat? Warum finden die Weltanschauung per se sowie die Parteien und Persönlichkeiten, die diese vertreten, nicht mehr Unterstützung? Warum hat die Idee der Freiheit nicht mehr Sex-Appeal? Der Versuch einer Antwort anhand von drei inhaltlichen Herausforderungen und fünf strukturellen Nachteilen.
Gerechtigkeit und Umwelt
Seit es den Begriff des Liberalismus gibt, gehört zu seinen Spannungsfeldern par excellence, dass sich Freiheit der Menschen und Gleichheit der Einkommen und Vermögen nicht gut vertragen. Der Verdacht, die soziale Frage nicht genügend ernst zu nehmen, begleitet den Liberalismus seit seinen Anfängen. Leider verwechseln viele Menschen Gleichheit mit Gerechtigkeit. Dabei ist es gerade umgekehrt: Gerechtigkeit verlangt Ungleichheit. Sie verlangt zwar, dass jene Bedingungen im Leben der Menschen, die von der Regierung bestimmt werden, für alle gleich sind, aber wie es der grosse Liberale Friedrich August von Hayek klar sagt: «Aus der Tatsache, dass die Menschen sehr verschieden sind, folgt, dass gleiche Behandlung zu einer Ungleichheit in ihren tatsächlichen Positionen führen muss und dass der einzige Weg, sie in gleiche Positionen zu bringen, wäre, sie ungleich zu behandeln.»
In den letzten Jahrzehnten haben die Lohn- und Einkommensexzesse dem Ansehen des Liberalismus massiv geschadet. Obwohl sie nachweislich gerade nicht Ausdruck und Ausfluss eines funktionierenden Marktes waren, wurden sie den Anhängern des Marktes angelastet. Und dann kamen Studien wie die – methodisch stark kritisierte – von Thomas Piketty, die von einer sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich sprechen und damit wunderbar den Zeitgeist, oder besser: das schlechte Gewissen vieler Wohlstandsbürger, treffen. Das führte dann zu so grotesken Schlagzeilen wie jener, wonach nur Simbabwe und Namibia eine ungleichere Vermögensverteilung aufwiesen als die Schweiz.
Zum Glück gibt es daneben noch eine andere Realität, etwa eine Studie von Branko Milanovic im Auftrag der Weltbank. Sie zeigt, dass die durchschnittlichen Einkommen zwischen 1988 und 2008 weltweit auf allen Einkommensstufen gestiegen sind, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass; dank diesem Wachstum konnten sich seit 1988 Milliarden Menschen aus der Armut befreien. Und sie zeigt, dass die Verteilung sogar leicht gleichmässiger geworden und der die Ungleichheit messende Gini-Koeffizient von 0,72 auf 0,70 gesunken ist. Zwar gibt es relative Gewinner und Verlierer, aber zu diesen – relativen – «Verlierern» gehören nicht nur diejenigen mit den niedrigsten Einkommen, sondern genauso jene des obersten Viertels der Einkommen, mit Ausnahme der «Superstars». Die relativen Gewinner sind die Welt- Mittelschicht und das einkommensmässig oberste Prozent. Trotzdem wollen viele ungeachtet der Fakten weiter grossflächig umverteilen, auch im reichen Westen – aus Prinzip.
Dazu kommt, dass die Kritik der Liberalen an den Übertreibungen des Wohlfahrtsstaates von den politischen Gegnern bewusst als Absage an jegliche Sozialpolitik fehlinterpretiert wird. Zugleich wird verdrängt, dass Aushängeschilder des Liberalismus – wie in Deutschland Ludwig Erhard – den Aufbau des Sozialstaates begonnen haben und dass sich die Liberalen sehr wohl für einen effizienten Sozialstaat einsetzen; sie erteilen lediglich der Devise «immer noch mehr» eine Absage, weil Kollektivierung Fremdbestimmung heisst und das Ideal des Liberalismus das selbstbestimmte Individuum bleibt.
Die Liberalen haben einen strategischen Fehler begangen, als sie die Umweltthematik zu spät und zu halbherzig in ihre Programme aufgenommen haben. 1981 brachte die NZZ eine Artikelserie, die später unter dem Titel «Wirtschaft jenseits der Umweltzerstörung» als Buch veröffentlicht wurde. Darin ging es unter anderem um marktwirtschaftliche Instrumente des Umweltschutzes, um Preise, Steuern und Emissionszertifikate, kurz: um eine Politik der Anreize statt der Gebote und Verbote. Die liberalen Parteien haben leider die Chance verpasst, sich frühzeitig mit einem marktkonformen Umweltschutz zu profilieren, und so das Feld weit geöffnet für grüne Parteien, die meist etatistisch denken: Der Problemlöser für jedes Problem ist der Staat. Da und dort, etwa in Deutschland, nähern sich Grüne jetzt den Konservativen, was insofern nicht überraschen sollte, als es beiden um Bewahrung geht.
Identität
Wer eine Bewegung verschläft, versucht dann, wenn sie mächtig wird, ziemlich konzeptlos aufzuspringen. Das Lavieren der schweizerischen FDP in der Klima- und Energiepolitik zeigt solche Züge. Sie schwimmt im Mainstream mit, wenn sie zu sehr auf den Kampf gegen die Erwärmung setzt, statt – nicht nur, aber auch – das Leben mit der Erwärmung ebenfalls ins Visier zu nehmen. Und sie scheint nicht recht zu wissen, was sie will. Wollte man einen Beitrag zum Kampf gegen die Klimaerwärmung leisten, müsste man sich für eine Weiterentwicklung der Kernenergie einsetzen. Will man die Kernenergie ersetzen, kommt man um CO2-ausstossende Gaskraftwerke nicht herum. Will man auch das nicht, müsste man der Bevölkerung ehrlich sagen, dass ihr in Sachen Energiekomfort und Wohlstand eine nicht einfache Zukunft bevorsteht.
Eine besonders heikle Herausforderung stellen die konservativen Strömungen dar. Der Liberalismus ist von seinem Gedanken des freiwilligen Tauschs her internationalistisch orientiert. Globalisierung ist ein liberales Konzept. Aber die Menschen streben nicht nur nach Wohlstand, sondern auch nach Verankerung, Sicherheit, Geborgenheit, sie schätzen Heimat und Tradition und haben Angst vor dem Fortschritt, den die liberale Ordnung ermöglicht, ja fördert. An dieser Front hat der Liberalismus in den letzten Jahrzehnten vieles falsch gemacht. Es gibt viele Liberale, die zu ökonomisch argumentieren und vergessen, dass Wohlstand allein nicht zählt, die dogmatisch – auch bei Personen – für fast völlig offene Grenzen eintreten, obwohl es völlig offene Grenzen für Personen nahezu nie und nirgends gibt und solche Personenfreizügigkeit zu unerwünschten Ansprüchen an den Sozialstaat führen kann. Dieses Nichternstnehmen hat zu den jüngsten populistischen Verirrungen kräftig beigetragen. «Der Populismus ist (. . .) ein Zeichen der Schwäche des Liberalismus», schrieb der Marxist Slavoj Zizek in dieser Zeitung. Recht hat er.
Dass der Liberalismus den Wunsch nach Identität und Verankerung nicht so recht bedient, hat zum Teil mit intellektueller Arroganz zu tun. Die konservativen Globalisierungskritiker sind aber nicht einfach dumbe Hinterwäldler, und ihr Festhalten an den Wurzeln ist nicht blosse Heimattümelei. Das Dorf ist vielleicht ökonomisch, aber nicht unbedingt emotional weniger wert als die Stadt. Liberale sollten die Menschen so nehmen, wie sie sind, auch, wenn sie – in unterschiedlichem Ausmass – der Wurzeln bedürfen. Zum Teil fehlt den Liberalen zudem das Verständnis für die Nöte der veritablen Globalisierungsverlierer. Ihnen vorzurechnen, das Land profitiere insgesamt, wird sie nicht überzeugen. Überzeugen und für Reformen und eine Öffnung gewinnen könnte man sie vielleicht, wenn man sie im Übergang für ihre Verluste entschädigte. Das wäre ein liberaler Weg.
Vor diesem Hintergrund ist bei aller notwendigen Abgrenzung gegenüber rechts die völlige Verteufelung der neuen und älteren rechtspopulistischen Parteien vermutlich kontraproduktiv. Diese sind entstanden, weil die traditionellen konservativen Parteien, exemplarisch die CDU, sich immer weiter in die Mitte und sogar darüber hinaus bewegt haben. Die Weigerung, mit ihnen zusammenzuarbeiten, die «Ausschliesseritis», wie es der hessische Grünen-Chef Tarek Al-Wazir nennt, gibt diesen Parteien Auftrieb. Sie denken in vielem genauso illiberal wie die populistischen Parteien auf der linken Seite, aber sie gehören zum demokratischen politischen Spektrum, sonst wären sie verboten. Man sollte ihre Anliegen ernst nehmen und versuchen, sie auf andere, liberalere Weise anzugehen. Eintrittspreise für Migranten, sinkende Ausgleichszahlungen für Verlierer, Verhinderung von Einwanderung ins Sozialsystem sind einige Stichworte.
Opfer des eigenen Erfolgs
Das verbreitete Gefühl, der Liberalismus habe sich abgenutzt, hat auch viel damit zu tun, dass die Unterstützung in den eigenen Reihen zu bröckeln scheint. Das wiederum ist, so paradox es klingen mag, eine Folge der Stärken des Liberalismus.
Erstens ist nach 1989 der klare Gegner abhandengekommen, das Gegenmodell, dessen Nachteile einem so offensichtlich vor Augen geführt wurden, dass man sich trotz den Schwächen der eigenen Gesellschaftsordnung immer wieder für diese entschied, halbherzig vielleicht, aber doch. Man stimmte für Eigenverantwortung und Marktwirtschaft, weil sich das Modell besser bewährt hatte. Die heutigen Gegenmodelle sind demgegenüber entweder zumindest bis jetzt durchaus erfolgreich (China, Singapur) oder von so anderer Natur (Islamismus), dass man kaum in der liberalen Ordnung das offensichtliche Gegenmodell sieht.
Zweitens ist, zumal in der Schweiz, eine eigentliche Wohlstandsverwöhnung zu diagnostizieren. Die Mehrheit der Menschen ist sich nicht bewusst, woher ihr Wohlstand kommt, dass er täglich neu erarbeitet werden muss, dass er anhaltendem Leistungswillen, unternehmerischer Tüchtigkeit, Wettbewerb, Offenheit für Neues und permanenter Innovation zu verdanken ist, wie sie nur in einer liberalen Gesellschaft möglich sind. Deshalb fehlt oft der «sense of urgency», wenn liberale Reformvorschläge auf dem Tisch liegen oder umgekehrt Angriffe auf die liberale Ordnung erfolgen.
Damit verwandt ist, drittens, die Freiheitsverwöhnung. Die Freiheit ist den Menschen in unseren Breitengraden so selbstverständlich, dass sie nicht merken, wie sie schleichend ausgehöhlt wird; sie beginnen, Unfreiheit als Freiheit wahrzunehmen. Weil die vielen feinen Einschränkungen der Freiheit immer mit einem guten Zweck begründet werden – Gesundheit, Umwelt, Soziales, Sicherheit –, wehren sie sich nicht und sehen nicht den Preis an Freiheitsverlust, der für die guten Ziele zu bezahlen ist.
Viertens verhindert eine der grossen Stärken des Liberalismus, seine aufgeklärte Nüchternheit, die Emotionen und damit, eine – vielleicht sogar die wichtigere – Hälfte des Menschen anzusprechen. Gegen Parteien, die Heimat und Tradition, die bedrohte Umwelt oder hilfsbedürftige Menschen ins Zentrum ihrer Botschaft stellen, ist es schwierig, mit langfristigen, schwer fassbaren, ja sogar verunsichernden ökonomischen und technologischen Fortschritten politisch zu punkten. Liberale wollen ja den Menschen keine Werte vorgeben, keine Inhalte, die deren Leben sinnvoll und glücklich machen sollen, sondern sie wollen nur einen Rahmen schaffen, in dem alle nach ihrer Fasson selig werden und nach Glück streben können.
Fünftens trifft, was der liberal-konservative Berliner Historiker Jörg Baberowski in einem Interview mit der NZZ über die Konservativen formuliert hat, eigentlich auf die Liberalen zu: «Sie sind im politischen Kampf unterlegen, weil es ihnen zuwider ist, sich in Herden zu organisieren, Ideen wie Ikonen zu verehren und endgültige Wahrheiten herauszuschreien.»
Trotz diesen thematischen Herausforderungen und strukturellen Nachteilen neige ich mit Blick auf die Zukunft des Liberalismus zu Gelassenheit. Die semiliberale Ordnung, in der wir leben, wird nicht zusammenbrechen. Es wird Kratzer geben, das Pendel wird vorerst in Richtung noch mehr Staat, Kollektivismus und Interventionismus ausschlagen, derzeit eher unter rechtspopulistischen Vorzeichen, aber – als Reaktion darauf – vielleicht sehr rasch auch unter linker Flagge. Und irgendwann wird sich das Pendel auch wieder Richtung Freiheit und Selbstverantwortung bewegen. Der Liberale misstraut den grossen Erklärungen, freut sich an den kleinen Fortschritten, die sich da und dort trotz allem abzeichnen – und bleibt dabei ein heiterer Skeptiker.