«Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?» Das Buch, das Franz Jaeger und Konrad Hummler als Herausgeber und Mitautoren initiiert und letzte Woche in Umlauf gebracht haben, versteht sich zwar nicht als ausgereifter Fluchtplan der Schweiz vor der mächtigen Europäischen Union. Aber einige der mehr als 20 Aufsätze in der Schrift lassen sich zweifellos als Anleitung dazu verstehen. Der emeritierte St. Galler Wirtschaftsprofessor und dessen Jugendfreund und Ex-Bankier möchten einen Beitrag leisten, dass die Diskussion über eine Strategie des Nicht-EU-Beitritts in Gang kommt.
Dringlichkeit scheint geboten. Die Verhandlungen zwischen London und Brüssel über die Modalitäten des Brexit haben soeben begonnen. Der Schweizer Bundesrat ist derweil in europapolitische Klausur gegangen. Der überraschende Rücktritt von Aussenminister Didier Burkhalter lässt erkennen, dass wichtige Weichenstellungen bevorstehen.
Abkommen nur auf Augenhöhe
«Auch eine Strategie des Nicht-EU-Beitritts muss Antworten auf zentrale Fragen liefern», sagt Hummler im Gespräch. Mehr als nur beispielhaft betont der gelernte Jurist die Bedeutung jener grossen Hürde, die Bern zur Festigung der Beziehung mit Brüssel bald einmal nehmen möchte: das institutionelle Rahmenabkommen. Ein Gericht, das Meinungsverschiedenheiten zwischen der Schweiz und der EU bei der institutionellen Übernahme von EU-Recht klären soll, müsse anerkennen, dass ein zu Grunde liegendes Abkommen nur ein Vertrag auf Augenhöhe zwischen zwei Parteien sein könne. «Wir akzeptieren zwar ein Rahmenabkommen mit der EU, plädieren aber bei Streitfällen für ein bilaterales Schiedsgerichtsverfahren oder allenfalls das Efta-Gericht als letzte Schlichtungsinstanz», sagt Jaeger. «Das ist der Kern der ganzen Frage und wahrscheinlich auch der Grund für Burkhalters Rücktritt», fügt Hummler an. Der Neuenburger Magistrat hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass er dem Europäischen Gerichtshof in Streitfällen das letzte Wort überlassen würde. Ein absolutes No-Go für Hummler und Jaeger. Statt EU-Gesetze «kalt» zu übernehmen, sollte die Schweiz der EU den eigenen Acquis helvétique «als mindestens gleichwertig» vorlegen. «Die Gefahr ist allerdings, dass solcherart souveräne Haltung kurzfristigem Kalkül sogenannter wirtschaftlicher Interessen und ängstlicher Kleingeisterei mediokrer Magistraten und Diplomaten zum Opfer fällt.»
Hummler ist bekannt für seine bombastisch-angriffige Rhetorik. Als Bankier hatte er sich auch gar nicht ängstlich gegen das amerikanische Steuerdiktat gestellt. Dass er mit dieser Strategie gescheitert ist, die Souveränität der Schweiz über- und die Entschlossenheit der Amerikaner unterschätzt hat, räumt er inzwischen als Fehler ein. Geblieben ist ihm offensichtlich aber die Überzeugung, dass man zur Verteidigung der eigenen Interessen auch Risiken eingehen und Konflikte nicht scheuen sollte.
«Ein möglichst hoher Grad von Freihandel mit dem europäischen Binnenmarkt genügt», sagt Hummler und stellt damit die bilateralen Verträge in Frage. «Einer weiteren Vertiefung der Einbindung der Schweiz in den EU-Binnenmarkt stehen wir äusserst skeptisch gegenüber, vor allem dort, wo sich die EU gegenüber Drittstaaten protektionistischer verhält als die Schweiz», erklärt Jaeger. Dass den britischen Wählern beim Gedanken an die Folgen eines harten Brexit jüngst gerade etwas unwohl geworden war, weshalb sie der Regierung von Theresa May keinen Blankoscheck ausstellen wollten, tragen Jaeger und Hummler mit Fassung: «Wir sollten sicher versuchen, uns mit Grossbritannien in Sachen Freihandel abzustimmen, aber wir können uns nicht auf die Engländer verlassen.»
Unerträgliche Guillotine-Klausel
Und wieder kommt der Europäische Gerichtshof zu Sprache: «Eine europäische Integrationsinstanz», der die Schweiz unbedingt fernbleiben sollte. Eine unerträgliche Vorstellung, dass ein EU-Gericht im Streitfall über die Anwendung der ebenso unerträglichen Guillotine-Klausel urteilen würde, enerviert sich Jaeger. Die Guillotine-Klausel will eine Politik der Rosinenpickerei verhindern und stipuliert, dass die siebenteiligen bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU einseitig und vollständig gekündigt werden können, wenn nur ein Teilvertrag nicht eingehalten wird. Just dieses Risiko bestünde aber, wenn die Schweiz die Personenfreizügigkeit einseitig einschränken würde. Dennoch fordert Hummler «eine wertschöpfungsorientierte Zuwanderung». Was er damit meint, sind offene Grenzen für gesuchte Spezialisten und ein restriktives Regime für Menschen ohne höhere Ausbildung.
Jaeger und Hummler predigen ihr eigenes Credo von Liberalismus. Aber wie liberal sind ihre Ideen wirklich? Bei der Personenfreizügigkeit gehe es um «Verwässerung», um die Frage, «wie viele Personen an den Sozialwerken und am Kapitalstock unseres Landes teilhaben sollen». Zu lange seien die Regierungen in Europa bedenkenlos über dieses Besitzstandsargument hinweggegangen, kritisiert Hummler. «Das ist die Quelle der nationalistischen Strömungen in Europa, und diese sind weder harmlos noch sympathisch.»
Sympathien für Widerstand der Wohlhabenden
Er habe grosse Sympathien für den Widerstand überdurchschnittlich wohlhabender Regionen der EU wie Bayern oder Katalonien gegen das zentralistische Diktat des Binnenmarktes, sagt Jaeger. Es sei doch klar, dass Zuwanderer – sofern es keine Flüchtlinge sind – für den Eintritt in ein funktionierendes System einen Preis entrichten sollten. «Als ich diese Idee vor 15 Jahren propagierte, warf man mir Nationalismus und Rassismus vor. Heute höre ich das fast gar nicht mehr.»
Als Jaeger 1970 für den Landesring der Unabhängigen in die Politik einstieg, sorgte der Nationalrat James Schwarzenbach mit seiner Überfremdungsinitiative für Wirbel in ganz Europa. Der damalige Ausländeranteil von knapp 18 Prozent sei zu hoch, behauptete er und verlangte eine Begrenzung auf 10 Prozent. 46 Prozent der Stimmbürger stimmten dafür. Jaeger aber nicht. «Die Nachkriegszuwanderung aus Italien war ökonomisch motiviert. Die Italiener haben unsere Häuser gebaut, und die Italianisierung hat der Schweiz sehr gut getan.» Die vielen Erfolgsgeschichten der zweiten und dritten Einwanderergeneration hätten das Land wirtschaftlich weitergebracht, räumt der Professor ein. Dennoch sagt er: «Zuwanderung ist eine Frage des Masses.» Tatsächlich liegt der Ausländeranteil an der Schweizer Bevölkerung heute bei rund 25 Prozent. Doch an dieser Statistik hat auch die Einbürgerungspolitik ihren Anteil. Die Anzahl Einbürgerungen im Verhältnis zum Ausländeranteil liegt in der Schweiz unter dem EU-Durchschnitt.
Hinweis
Konrad Hummler, Franz Jaeger (Hrsg.): Kleinstaat Schweiz. Zürich 2017. 374 Seiten, Verlag NZZ Libro, 49 Franken.