Interview mit Konrad Hummler zum neu erschienenen Buch „Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?“, bei dem er gemeinsam mit Franz Jaeger Herausgeber und Mitautor ist.
In diesen Tagen erscheint das Buch „Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell“ … ist die Schweiz ein Auslaufmodell?
Ob der Kleinstaat ein Erfolgsmodell bleiben kann oder eben doch irgendwann, vermutlich schleichend, zum Auslaufmodell wird, ist nicht eine prinzipielle Frage. Entscheidend ist vielmehr die Willensfrage. Man muss Kleinstaat sein wollen. Es gibt Unverzichtbarkeiten. Es gibt Grenzen der Verwässerung, sowohl in materieller als auch in personeller Hinsicht. Die gegenwärtige Zeitenwende wird diese Willensfrage stellen. Unser Buch soll als ein Beitrag zur Schärfung der Sinne verstanden werden. Auf dass nach gehabter Debatte eine konsensual getragene Doktrin unser Land in eine von Freiheit, Wohlstand und Recht geprägte Zukunft führe.
Sind Kleinstaaten wie die Schweiz mit den Herausforderungen der Globalisierung überfordert? Das jedenfalls behaupten EU-Politiker, dass nur noch die Großstaaten bestehen können…
Theorie und Empirie weisen darauf hin, dass die machtferne kleine Nation in vielen weltpolitischen Situationen ihre Vorzüge hat. Um in deutlich schwierigeren, komplexeren Zeiten als kleine Nation überleben und gedeihen zu können, braucht es aber wohl einen gewissen inneren Konsens. Der Schweiz fehlt ein heute kleinster gemeinsamer Nenner, mit dem, von Ausnahmen zur Linken und zur Rechten abgesehen, sozusagen alle einverstanden sein könnten. Ein kleinster gemeinsamer Nenner, den zu verletzen kein Bundesrat, kein Bundesbeamter, kein Richter wagen würde. Ein kleinster gemeinsamer Nenner, von dem das Volk wüsste, dass keine doppelten Agenden ihn langsam, aber sicher erodieren lassen. Ein kleinster gemeinsamer Nenner, der auch in schwierigen Zeiten gehalten und verteidigt werden kann.
Beschreiben Sie doch bitte etwas näher, wie sich solch ein „gemeinsamer Nenner“ definieren könnte?
Genau so, wie man die Frage beantwortet nach jenen fünf Dingen, die man auf eine einsame Insel mitnähme, wenn man es denn müsste: das wirklich Unverzichtbare. Das sind für die Schweiz gewiss die gewachsene föderale Struktur mit den hohen Entscheidungskompetenzen auf unterer Ebene, die Mitsprache des Volkes in Angelegenheiten der Staatsführung, der ausgeprägte Sinn fürs Masshalten bei Begehrlichkeiten gegenüber dem Staat, die Gewährleistung des privaten Eigentums sowie das partizipative und nicht obrigkeitliche Staatsverständnis. Dahinter steht selbstverständlich die Idee des freiwilligen Zusammenschlusses von citoyens und Bundesstaaten zur grossen Kooperative Schweiz.
Wie stark sind die „Pro EU“ Kräfte in der Schweiz?
Die Schweiz hat sich, mit unterschiedlicher Intensität und Begeisterung zwar, dem Beitritt zur EU stets verschlossen. Der monistische Versuch auf dem europäischen Kontinent war jedoch über die letzten Jahrzehnte die wohl grösste Herausforderung für die Schweiz als Kleinstaat. Dies einmal aus ganz praktischen Gründen, denn die wirtschaftlichen Verflechtungen sind zu beträchtlich, die Abhängigkeit der Exportnation Schweiz vom europäischen Umland zu offensichtlich, als dass in der Schweiz nicht wesentliche politische Kräfte starke eurozentrische Züge hätten annehmen müssen. Aber nicht nur das: Auch ideell schien die helvetische Kleinstaaterei angesichts des Umstands, dass man den Nationalismus in Europa hinter sich gelassen zu haben schien, als veraltetes Gedankenmodell. Überstaatlichkeit, Grenzen sprengen, wurde zur Lokomotive des Zeitgeists. Nun, da dieser grosse monistische Versuch in Europa zum Stillstand gekommen ist, relativiert sich diese Sichtweise zusehends.
Ist dieser „grosse monistische Versuch“ tatsächlich zum Stillstand gekommen?
Ja, er ist zum Stillstand gekommen, denn er ist faktisch gescheitert. Es gibt innerhalb der EU bereits eine Eurozone und den Rest der Mitgliedsländer, die auf die Einheitswährung verzichten. Die Governance wird immer unterschiedlicher. In der Euro-Zone herrschen mehr und mehr technokratische Direktorien, die über die Rettungsschirme (EFSF, ESM) installiert wurden, sowie die Europäische Zentralbank als eine Art ultimativer Garantin für alles, was diese Direktorien anstellen. Den Rest der EU betrifft das nicht oder nur am Rande. So sind die Fakten. Ob diese Faktenlage in den Köpfen angekommen ist, ist eine andere Frage.
In Ihrem Buch „Stadtstaat – Utopie oder realistisches Modell“, das bereits vor einigen Jahren erschienen ist, sprechen Sie von einer „intelligenten Verzahnung“ der Schweiz mit der EU. Was verstehen Sie unter „intelligenter Verzahnung“?
Die „intelligente Verzahnung“ entspricht dem Versuch des Klassenersten, seine komplementären Vorteile ins Spiel zu bringen. Sie stellt aber auch eine sehr aufwendige Methode dar, denn man muss dauernd darauf bedacht sein, einerseits allen genug zu geben, ohne ihnen andererseits einen Grund zu liefern, sich mit den anderen zu verbinden und mehr zu erpressen. Die Methode setzt mithin voraus, dass alle unnötigen Abhängigkeiten des Klassenersten laufend eliminiert werden beziehungsweise dass der Unangreifbarkeit des eigenen Verhaltens höchste Priorität zukommt. Der Klassenprimus sollte nicht um seine Kollegen froh sein müssen, er darf nicht deren Sklave werden. Am besten gestellt ist er, wenn er notfalls doch noch von der «Grosse-Bruder-Strategie» Gebrauch machen könnte, sich also an die USA und die Nato anlehnen kann.
Sind die wirtschaftlichen und auch politischen Entwicklungen in der EU ein Grund zur Sorge für die Schweiz?
Weder die Einheitswährung noch die Personenfreizügigkeit noch der ausdrückliche Verzicht auf verschiedene Integrationsgeschwindigkeiten bzw. -vertiefungen sind heute für den nüchternen Europäer mehr sakrosankt. Angesichts des offensichtlichen konstitutionellen Versagens auf mehreren Ebenen sind wir heute einem „Anything goes“ näher als je zuvor. Für den Kleinstaat Schweiz ist das Chance und Gefahr zugleich. Chance insofern, als sich nunmehr erneut die Gelegenheit ergibt, als europäisches Kernland zur Zukunft des Kontinents beizutragen. Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit, eine (trotz rekordhohem Ausländeranteil!) funktionierende Zivilgesellschaft, Arbeitswille, Demokratie, innerstaatliche Toleranz – die Schweiz ist in vielerlei Hinsicht Modell. Es wäre töricht, diesen über Jahrhunderte aufgebauten helvetischen Aquis aufzugeben zugunsten eines europäischen Aquis communautaire, der sich in verschiedenster Hinsicht nicht bewährt hat und nun der tiefgreifenden Reform bedarf – oder bei Reformunfähigkeit zum Auslöser einer europäischen Implosion wird. Die Schweiz darf, ja muss sich zu Wort melden. Sie muss ihren Aquis als mindestens gleichwertig dem europäischen gegenüberstellen.
Und wo sehen Sie die Gefahr?
Die Gefahr liegt in einer allzu akkommodativen Aussen- und Aussenwirtschaftpolitik der Schweiz gegenüber Brüssel. In Bern existiert eine versteckte Agenda, die den „EU-Beitritt trotz allem und wider Willen“ verfolgt. Dies teilweise aus – durchaus wohlgemeinten – technokratisch motivierten Gründen, teilweise, weil sich manche Parlamentarier, manche Chefbeamte insgeheim nach einer Bedeutungssteigerung ihrer Position auf europäischer Ebene sehnen. Weg vom lästigen, direktdemokratisch bewehrten Bürger, hinein in das Elysium der Bürgerferne Brüssels. So funktioniert Public Choice nun einmal: Wo ein höherer diskretionärer Spielraum winkt, wird dessen Besitz angestrebt. Dagegen kann nur ein explizit geäusserter politischer Wille wirken.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hummler.
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Am Mittwoch, 28. Juni 2017, 11.30 Uhr, veranstaltet die Progress Foundation im Hotel Widder, Zürich, eine Buch-Vernissage: «Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?» – Anmeldungen sind hier möglich: info@m1ag.ch
Das Interview wurde im Mai 2017 per Email geführt. Die Fragen stellte Andreas Marquart.
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Konrad Hummler (*1953) wuchs in einem für Politik und Kultur sehr offenen Elternhaus in St. Gallen (Schweiz) auf. Er studierte an der Universität Zürich Jurisprudenz und auf Einladung des Monetaristen Karl Brunner in Rochester (N.Y.) Ökonomie. Nach der Dissertation über ein Thema der Rechtsinformatik trat er in den persönlichen Stab des damaligen Verwaltungsratspräsidenten der Schweizerischen Bankgesellschaft, Dr. Robert Holzach, ein. Ab 1991 war er bei der St. Galler Privatbank Wegelin als unbeschränkt haftender, geschäftsführender Teilhaber tätig. Innert zwanzig Jahren erfolgte ein beispielloser Aufbau des Vermögensverwaltungsgeschäftes; Wegelin verfügte Ende 2011 über 14 Niederlassungen in der ganzen Schweiz und bewirtschaftete mit über 700 Mitarbeitenden Kundenvermögen von etwa 24 Milliarden Franken. Aufgrund einer krisenhaften Entwicklung in den Auseinandersetzungen zwischen den USA und der Schweiz in Steuerfragen entschlossen sich die Wegelin-Teilhaber anfangs 2012 dazu, den Grossteil ihres Geschäftes an die Raiffeisen-Gruppe zu verkaufen, um damit Arbeitsplätze zu erhalten und die Kundenvermögen zu schützen. Nach dieser Zäsur erfolgte ein Neubeginn in Form der M1 AG, eines privaten Thinktanks für strategische Zeitfragen. Mit der Publikation „bergsicht“ verschafft sich Konrad Hummler alle zwei Monate Gehör. Sein unternehmerischer Rat ist im In- und Ausland gefragt.
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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.
Quelle: https://www.misesde.org/2017/06/kleinstaat-schweiz-–-auslauf-oder-erfolgsmodell/