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In den Medien
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19.12.2016

Dieser Markt ist menschlich

Warum der Kapitalismus den Christen lieb sein müsste

Gerhard Schwarz
NZZ

In christlichen Kirchen wird in Predigten und Fürbitten gerne über die Marktwirtschaft hergezogen, die man in den USA ohne negativen Unterton Kapitalismus nennt. Vergötterung des Mammons, soziale Kälte, Einkommensdisparitäten, Gier, Ausbeutung, Profitdenken, überzogener Individualismus, Hedonismus, Materialismus, Umweltzerstörung – kaum eine Schlechtigkeit dieser Welt, die nicht dem Kapitalismus angelastet wird. Dagegen geniesst der Sozialismus nur schon wegen des Namens Sympathie, obwohl alle sozialistischen Experimente unglaubliches Elend gebracht haben.

Im Ergebnis ist der Kapitalismus sozialer als der Sozialismus. Seit aber Papst Franziskus in «Evangelii gaudium» von «dieser Wirtschaft, die tötet», spricht und vom Geld, das regiert, statt zu dienen, fühlen sich viele Christen in ihrer Ablehnung des Kapitalismus bestärkt. Dabei ist ein Bekenntnis zum Katholizismus (beim Protestantismus zweifelt man dank Max Weber weniger) durchaus mit der Bejahung des Kapitalismus vereinbar, ohne dass man sich verrenken muss.

Das beginnt beim Menschenbild. Das Verständnis des Menschen als Einzelperson, ausgestattet mit gleicher Würde, angenommen von Gott, harmoniert mit dem liberalen Menschenbild. Dass jedem Kind Gottes ewiges Leben gewährt ist und die Seele jedes Menschen in Kontakt mit Gott steht, sind zentrale Wurzeln des Liberalismus. Das ist vielen Liberalen nicht bewusst; dabei ruft der Begriff der Würde geradezu nach der Idee einer höheren Instanz, die diese Rangstellung verleiht.

Kommunismus in der Familie

Die Kritik der Kirchen am Kapitalismus hat zum Teil damit zu tun, dass sie ihre individualistischen Wurzeln verdrängen und den Markt als selbständig handelndes Subjekt verstehen. Es ist aber nicht der Markt, der handelt; es sind Menschen, die auf dem Markt freiwillig handeln und schuldig werden. In dieser «menschlichen» Marktwirtschaft ist Raum für Gut und Böse und wird es stets zu Übertretungen der moralischen Regeln kommen. Eine solche Ordnung, in der die Menschen sich bewähren können und nicht am Gängelband geführt werden, müsste den Kirchen lieb sein, denn erzwungenem Tun kommt kaum ethische Qualität zu.

Eine andere Ursache der Spannung ist die von Friedrich August von Hayek kritisierte Übertragung der Gesetze der kleinen Gemeinschaft auf die grosse Gesellschaft. Die ideale christliche Gemeinschaft ist nicht der Staat, sondern die Familie (mit ihren modernen Spielarten). In solchen Gemeinschaften können Liebe, Mitgefühl und soziale Verantwortung statt Macht und Hierarchie als Bindeglieder dienen. Hier kommt die Sozialnatur des Menschen zum Ausdruck, hier kann sogar Kommunismus herrschen, nicht dagegen in einer Stadt oder einem ganzen Land.

Suche nach dem Gemeinsamen

An vier Schlüsselbegriffen soll ausgeleuchtet werden, inwiefern man als Christ sehr wohl kapitalistisch denken kann. Beginnen wir mit dem Wettbewerb. Mit ihm hat der Katholizismus seit je Mühe, selbst in der marktwirtschaftsaffinen Enzyklika «Centesimus annus» (1991). Wenn in katholischen Dokumenten von Wettbewerb die Rede ist, wird praktisch immer zugleich vor der Zügellosigkeit des Marktes gewarnt. Noch in «Mater et magistra» (1961) wurde der Wettbewerb als unvereinbar mit der christlichen Lehre und der menschlichen Natur verteufelt.

Dabei gehört Wettbewerb zur anthropologischen Grundausstattung des Homo sapiens, der wir Innovation und Fortschritt verdanken. Er muss natürlich mit lauteren Mitteln geführt werden, aber unter dieser Voraussetzung ist er ein grossartiges Entdeckungsverfahren und Entmachtungsinstrument. Eine Schrift der Evangelischen Kirche in Deutschland umschreibt dies: «Wettbewerb ist ein zentrales Moment jeder Marktwirtschaft, . . . auch unter ethischen Gesichtspunkten . . . Er belohnt die Leistung des Tüchtigeren. Dieser Ansporn dient aber dem Gemeinwohl.» Und Albertus Magnus nennt im 13. Jahrhundert gerecht, «was die Güter gemäss der Einschätzung des Marktes im Zeitpunkt des Verkaufs wert sind». Die Kirchen sollten also den Wettbewerb loben, statt das Zerrbild eines sozialdarwinistischen Kampfes aller gegen alle zu entwerfen.

Mit dem Privateigentum ist es einfacher. Das Gebot Jahwes «Du sollst nicht stehlen» setzt die Rechtmässigkeit privaten Eigentums voraus. Denker wie Augustinus, Thomas von Aquin und, 200 Jahre vor Adam Smith, die spanischen Scholastiker der Schule von Salamanca haben dem Privateigentum und dem Gewinn ihren Segen erteilt; und der polnische Papst Johannes Paul II. wusste aus Erfahrung um die Vorteile des Privateigentums. Es gibt keine bessere Institution, um mit stets begrenzten Ressourcen produktiv umzugehen und knappe Güter zuzuteilen.

Bei den Kirchen aber steht die Sozialpflichtigkeit des Eigentums im Vordergrund, und sie meinen damit zu oft ein nicht nachhaltiges Verhalten wie das Zahlen höherer Löhne, als sie die Nachfrage und der Markt hergeben. Wer sein Geld investiert, richtige Entscheide fällt und damit Geld verdient, wird dagegen eher geächtet statt mit Applaus bedacht. Dabei verhält sich der Unternehmer ethisch, der sich in der Firma (das Privatvermögen ist etwas anderes) mit kühlem Kopf an der ökonomischen Sachlogik orientiert und nicht vor lauter warmem Herzen Unternehmen wie Arbeitsplätze gefährdet. Christen dürften das ruhig laut sagen. Sehr lasch sind die Kirchen, wenn der Staat auf das Privateigentum zugreift, obwohl er damit in die Freiheit des Einzelnen eingreift, obwohl, was sich nicht in privaten Händen befindet, in der Regel weniger sorgfältig gepflegt wird und obwohl privates Eigentum die Basis christlicher Tugenden wie Wohltätigkeit und Gastfreundschaft ist. Dabei würde es christlichem wie jüdischem Denken entsprechen, weltlicher Herrschaft mit Skepsis zu begegnen.

Gott als oberster Souverän ist die Quelle der Gerechtigkeit und des Rechts. Somit sind auch die Herrscher dem Gesetz und der Gerechtigkeit unterstellt. Daraus leitet sich die Forderung nach Gesetzen ab, die für alle gleich gelten. Generell befördert die Abgrenzung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in der Bibel liberale Vorstellungen. «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist» ist ein Plädoyer für die Unabhängigkeit der religiösen Autorität vom Staat in Fragen von Moral, Glauben und Kult. Zugleich ist es aber, bei aller Bejahung des Staates, eine Absage an einen ausufernden Staat.

Besonders profilieren sich die Kirchen mit ihrer Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Dabei verwechseln sie Einkommensgleichheit mit Gerechtigkeit und vergessen gerne, dass man produzieren muss, bevor man verteilen kann. Krasse Ungleichheiten können zwar zu sozialen Spannungen führen, aber das ist keine ethische Frage. Als Folge von Unterschieden der Begabung, der Anstrengung, des Glücks und der Nachfrage muss der Suchprozess im Markt zu Unterschieden der Einkommen führen. Sie sind aber im Rechtsstaat nicht ungerecht, sondern natürliche Begleiterscheinung einer dynamischen Wirtschaft, dank der die untersten 20 Prozent der Einkommensbezüger heute besser leben als die obersten 20 Prozent vor 100 Jahren. Nicht der Umverteilungsstaat, der Leistung bestraft und das Anspruchsdenken fördert, ist sozial, sondern der Staat, der die unternehmerische Initiative und damit die Überwindung von Armut nicht abtötet und die private Wohltätigkeit nicht verdrängt.

Realismus statt Utopie

Voraussetzung für ein Zusammenfinden von kirchlichem und marktwirtschaftlichem Denken wäre eine Absage an die Übertragung der Heilserwartung auf unsere Erde. Die Marktwirtschaft ist kein Paradies und schafft auch keines. Gerade die Kirchen sollten wissen, dass in der Realität vieles unbefriedigend bleiben muss, weil das Reich der himmlischen Gerechtigkeit nicht von dieser Welt ist; sie sollten erkennen, dass die Ökonomie so komplex ist, dass man mit jeder Intervention gravierende unbeabsichtigte Nebenwirkungen in Kauf nimmt; und sie sollten einsehen, dass eine Ordnung, in der die Verteilung politisch gesteuert wird, nicht gerechter, haushälterischer und bedürfnisgerechter ist als eine liberale Ordnung.

Das Anstreben einer vollkommen gerechten Ordnung, die auf einer Moral gründet, die wesentlich höher ist als die durchschnittliche, ist inhuman. Viele Christen gehen jedoch gedanklich diesen Weg. Dabei kritisierte schon Augustinus jene, die versuchten, die Gesellschaft in ein nach ihrer Meinung ideales Muster zu pressen: Man solle lieber den Freiraum schaffen, in dem sie sich so verhalten können, wie sie es für richtig halten. Diesen Freiraum, diesen anthropologischen Realismus und diese Offenheit bietet die marktwirtschaftliche, liberale Ordnung mehr als jede andere.

 

NZZ Montag, 19. Dezember 2016, Seite 25