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In den Medien
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03.07.2010

Liberale Pflichtlektüre

Friedrich August von Hayeks „Verfassung der Freiheit“ ist auch 50 Jahre nach ihrem Erscheinen immer noch aktuell.

Bernd Kramer
Badische Zeitung

Mögen Sie Hayek? Ein denkbar schlechter Einstieg für ein Partygeplauder, selbst wenn die Festgäste mehrere Jahre an der Universität verbracht haben. Den Namen bringen die meisten mit der mexikanischen Filmschönheit Salma Hayek in Verbindung, ein paar Leute denken vielleicht noch an den vor wenigen Tagen verstorbenen Schweizer Unternehmer und Swatch-Erfinder Nicolas Hayek. Aber Friedrich August von Hayek? Denjenigen, die schon einmal von dem Nobelpreisträger gehört haben, gilt er zumeist als ausgewiesener Rechter. Ist er doch jener Autor, der die Bettlektüre der britischen Premierministerin Margret Thatcher schrieb und ihr damit eine geistige Steilvorlage für ihre Wirtschaftspolitik lieferte. Andere halten Hayek gar für einen Faschisten oder den theoretischen Wegbereiter einer radikalen Laissez-Faire-Ideologie, die den Staat verabscheut und die Welt in die größte Wirtschaftskrise seit der Großen Depression in den 30er Jahren gestürzt hat. Selbst der liberale Soziologe Lord Dahrendorf, wegen seines klugen Urteils geschätzt, ging nicht zimperlich mit dem Wirtschaftsprofessor um. Zu dogmatisch sei Hayeks Werk, sagte er.

Aber ist der im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn Geborene tatsächlich jene konservative Galionsfigur, zu der ihn seine schärfsten Gegner und mancher seiner glühendsten Verehrer gerne machen? Der Ideologe des ungezähmten Marktes, dessen Ideen der Welt nur Arbeitslosigkeit, Bankencrashs und horrende Staatsdefizite brachten? Oder steckt in Hayeks Büchern vielleicht doch mehr und gänzlich Anderes? Eine differenzierte Sicht der Welt gar, die auch in Krisenzeiten Erkenntnisgewinn verspricht? Oder Einsichten, die manchem an seiner Partei verzweifelten deutschen Liberalen bei der Suche nach einem politischen Selbstverständnis weiterhelfen können? Immerhin gilt Hayek zumindest im angelsächsischen Sprachraum als einer der Sozialphilosophen überhaupt.

Wen die gängigen Urteile nicht abschrecken und wer sich die Mühe macht, auf intellektuelle Spurensuche in Hayeks Büchern zu gehen, kommt tatsächlich in den Genuss eines gedanklichen Abenteuers – eines, das an gängigen Positionen zweifeln und wegen des Stils des Autors an Klarheit und Verständlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.

Zum Beispiel in der „Verfassung der Freiheit“: Hayek hat das Buch 1960 geschrieben – das Werk eines akademischen Außenseiters. Seine Kritik am sich ausbreitenden Wohlfahrtsstaat hatte ihn in weiten Kreisen unbeliebt gemacht. Hayek sah in den stark wachsenden Sozialversicherungssystemen einen Angriff auf die Freiheit des Einzelnen. Statt wie von Hayek befürwortet eine Hilfe für in Not geratene Menschen zu sein, waren die Sozialversicherungen in den Augen des Professors unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit zur gigantischen, staatlichen Zwangsumverteilungsmaschine mutiert. Für Hayek ein Schritt in Richtung Sozialismus und Planwirtschaft.

In dieser Situation wollte er einen Gegenentwurf schaffen, eine Art liberale Utopie, mit welcher die mit sozialistischen Ideen sympathisierenden Intellektuellen von den Vorteilen einer freien Gesellschaft überzeugt werden sollten. Einer Gesellschaft, die auf der Herrschaft des Rechts, dem Schutz des Eigentums, Wettbewerb, Marktwirtschaft, unbehinderter Meinungsäußerung und Demokratie beruht, die Einflussmöglichkeiten der Mehrheit aber beschränkt. All dies hat nach Hayeks Meinung zum Aufstieg und Wohlstand des Westens entscheidend beigetragen.

Kalter Kaffee werden manche sagen. Und doch ist das Buch von hoher Aktualität. Vielleicht wegen solch altmodisch anmutender Begriffe wie Demut und Bescheidenheit, für die Hayek gleich zu Anfang plädiert. Sie sind Ausdruck seiner Skepsis gegenüber dem latenten Wunsch, eine perfekte Gesellschaft zu schaffen, in der alle menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden können. Und dem Glauben, weise Eliten könnten dank ihres Wissens ein Paradies auf Erden gestalten. Für Hayek wegen der Beschränktheit des menschlichen Geistes eine Anmaßung, die nur ins Verderben führen kann.

Auf die heutige Zeit übertragen ist dies eine Absage an staatliche Allmachtsfantasien. Wer die „Verfassung der Freiheit“ liest, wird Zweifel an den Aussagen jener Politiker bekommen, die vorgeben, mittels immer neuer Ausgabenprogramme die Wirtschaft und das Wohlbefinden der Menschen zielgenau steuern zu können. Genauso wird der Leser aber auch jenen Ökonomen mit Misstrauen begegnen, die glauben, mit ihren Modellen die Wirklichkeit vollkommen erfasst zu haben und daraus bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma genaue Prognosen für die Zukunft ableiten zu können. Die Annahme dieser Wissenschaftler, der Mensch handele stets rational, hat Hayek nicht geteilt. Es waren aber diese Modelle, die Banker, Unternehmer und Aktionäre vor der Finanzmarktkrise in falscher Sicherheit wiegten und damit maßgeblich zur Katastrophe beitrugen. Hayek deshalb die Schuld für den Lehman-Kollaps samt seinen Folgen in die Schuhe schieben zu wollen, ist Unfug.

Was so mancher Liberale in Zeiten des Booms vergessen hat, unterstrich der Nobelpreisträger stets: Die Möglichkeit selbst zu entscheiden, ohne dabei die Freiheit des anderen einzuschränken, geht einher mit der Selbstverantwortung des Einzelnen. Anders gesagt: Wer etwas tut, muss anschließend auch dafür gerade stehen. Auch dies war vor und in der Finanzmarktkrise nicht gegeben. Vielmehr konnten Banker und Fondsmanager ungehemmt immer höhere Risiken eingehen, sich noch mehr verschulden, in der Gewissheit, dass US-Notenbankchef Alan Greenspan in der Krise die Leitzinsen senkt und beim Bankenkollaps der Staat schon zur Hilfe kommt – eine staatliche Einkommensgarantie für die Topverdiener der Gesellschaft.

Solche Privilegien hat Hayek verabscheut. Sie widersprechen seiner Vorstellung von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit heißt für ihn nicht, von Reich zu Arm umzuverteilen, sondern die Gleichheit vor dem Gesetz. Positiv gesagt: Egal ob schwarz oder weiß, mit Uni-Abschluss oder ohne, ob Millionär oder Arbeiter, aus Einwandererfamilie oder nicht – alle behandelt der Staat gleich. Steuervergünstigungen wie der ermäßigte Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen oder das Elterngeld, das vor allem Besserverdienenden zugute kommt, würden in solch ein System nicht passen.

Wer sich an die Regeln hält, kann sich dann frei entfalten. Wobei Hayek den Preis dafür benennt. In solch einer Gesellschaft wird es als Folge der Freiheit zu einer ungleichen Vermögensverteilung kommen, weil die Menschen unterschiedlich sind und verschieden handeln. So ist in einer Fußnote in der „Verfassung der Freiheit“ vermerkt: „Freiheit erzeugt notwendig Ungleichheit und Gleichheit (materielle Gleichheit) notwendig Unfreiheit.“ Allerdings befürwortet der Ökonom staatliche Dienstleistungen wie Bildung und eine staatliche Grundversorgung für Leute in Notlagen. Er macht jedoch einen Unterschied. Diese Grundversorgung dürfe nur eine „Sicherung gegen schwere physische Entbehrung und die Zusicherung eines gegebenen Existenzminimums für alle sein.“ Ein Recht auf die Erhaltung eines einmal erreichten Lebensstandards habe dagegen niemand. So etwas sei nur über Umverteilung zu erreichen, die Hayek ja als Anschlag auf die Freiheit des Einzelnen wertet. So hätte der Nationalökonom wohl nichts gegen Hartz IV, wohl aber gegen die frühere Arbeitslosenhilfe, deren Niveau sich am zuletzt erzielten Verdienst orientierte.

Für die Freiheit führt er ein weiteres Nützlichkeitsargument an. Können die Mitglieder einer Gesellschaft unter Beachtung allgemein gültiger Regeln ihre Ansichten aussprechen und frei entscheiden, werden sie in der Lage sein, sich an sich verändernde Bedingungen anzupassen, die zum Beispiel durch technischen Fortschritt hervorgerufen werden. Freiheit lässt dem Einzelnen Raum zum Experimentieren mit neuen Lösungen.

Hayek taugt nicht zur konservativen Galionsfigur.

Für Hayek wird sich eine Gesellschaft für den Weg entscheiden, der sich bewährt hat – also ihr zum Beispiel ein höheres Einkommensniveau oder mehr Lebensqualität verspricht. Solche Entschlüsse sind nicht die Folge eines vermeintlich großen Entwurfs eines weisen Planers, sondern beruhen auf den aus der Vergangenheit übermittelten und neu gemachten Erfahrungen jedes Einzelnen, also auch denen des Scheiterns. Hayek ist hier seinem Freund, dem Sozialphilosophen Karl Popper, am nächsten. Dieser hatte stets das Prinzip des Versuchs und Irrtums beschworen und es als Rechtfertigung für die Demokratie herangezogen. In einer Demokratie können die Bürger ihre Herrscher abwählen. Dies ermöglicht, Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Vor diesem Hintergrund taugt Hayek wenig als Galionsfigur jener Konservativen, die sich gern zu Hütern des Bewährten aufschwingen. Hayek hat sogar das Nachwort der „Verfassung der Freiheit“ mit dem Titel „Warum ich kein Konservativer bin“ versehen. Zwar schätzt er Traditionen, weil sich in ihnen die Erfahrungen vieler Generationen widerspiegeln, aber mit ihnen kann gebrochen werden, wenn sie zur Bewältigung der Gegenwart nicht mehr taugen. Den Konservativen wirft er vor, kein Vertrauen in die spontanen Anpassungskräfte einer Gesellschaft zu haben, sondern lieber Besitzstände verteidigen zu wollen und auf die Herrschaft von Autoritäten, also vermeintlich weiser und großer Männer, zu setzen.

Herkunft oder Aussehen sind für Hayek jedoch kein Elitenkriterium. Vielmehr zeichnet die Mitglieder einer Elite aus, dass sie sich bewähren müssen durch „ihre Fähigkeit, ihre Position unter denselben Regeln zu erhalten, die auf alle anderen angewendet werden.“ Auch das scheint so mancher Liberaler in der Bundesrepublik vergessen zu haben.

– Der Text entstand anlässlich eines Seminars der Schweizer Progress Foundation.

 

ZUR PERSON: FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK
wurde 1899 in Wien geboren. Er studierte nach dem Kriegsdienst 1918 Rechtswissenschaft an der Universität Wien. Allerdings beschränkte sich sein Interesse nicht auf Jura: Schon während des Studiums setzte er sich mit ökonomischen und psychologischen Fragen auseinander. Hayek war in jungen Jahren Sozialist, wurde aber unter dem Einfluss des Ökonomen Ludwig von Mises zu einem Kritiker des Sozialismus. Im Jahr 1931 wurde er Professor an der London School of Economics, 1950 wechselte er an die Uni Chicago. Hayek war in der Nachkriegszeit Initiator der Mont-Pèlerin- Gesellschaft – einem Treffpunkt liberaler Denker. 1962 kam Hayek nach Freiburg, 1974 wurde ihm der Ökonomie-Nobelpreis verliehen. Er starb 1992 in Freiburg. Zu seinen berühmtesten Werken zählen : „Der Weg zur Knechtschaft“ und die „Die Verfassung der Freiheit“, die bei Mohr-Siebeck erschienen ist.