Vorbemerkung
Dr. Bernhard Ruetz
Auf Einladung der „Progress Foundation“ diskutierten Persönlichkeiten aus verschiedenen Berufsgruppen während zweier Tage über das Thema „Generosity“. Anwesend waren Redaktoren und Publizisten, Think-Tanker, Hochschullehrer aus den Bereichen Ökonomie, Jurisprudenz, Geschichte, Philosophie und Ethologie sowie ein Direktor eines Wirtschaftsverbandes.
Die Teilnehmer erhielten im Vorfeld des Workshops ausgewählte Texte zum Thema „Generosity“. Es war das Ziel des Workshops, in vorbereiteter und strukturierter aber freier Form über das grundlegende Thema zu diskutieren. Der Workshop war in sechs Gesprächsrunden à 90 Minuten unterteilt. Alle Gespräche standen unter einem bestimmten Thema. Zwischen den Gesprächen verblieb ausreichend Zeit für gemeinsame Unternehmen, persönliche Kontakte und Geselligkeit.
Die Diskussionen verliefen sehr anregend und stellenweise kontrovers. Es liegt in der Natur der Veranstaltung, dass die Beiträge zu den jeweiligen Themen weit gefasst waren, so dass ein stringenter Argumentationsverlauf nicht zu erwarten war. Dennoch lässt sich in der Fülle von Argumenten und Stellungnahmen zum Thema „Generosity“ ein roter Faden finden. Der folgende Bericht konzentriert sich auf die zentralen Aussagen und Einsichten des Workshops. Dass sich dabei mancher Teilnehmer nicht immer finden kann und mancher interessante argumentative Nebenweg nicht erwähnt wird, mag angesichts der gebotenen Kürze und Lesbarkeit zu begründen sein.
Bericht über den Workshop
Begriffe wie „Grosszügigkeit“, „Freigebigkeit“, „Grossherzigkeit“, „Hilfsbereitschaft“ und „Wohlwollen“ werden oft synonym verwendet, sind aber nicht wesensgleich. Grossherzigkeit, Wohlwollen und Hilfsbereitschaft beziehen sich mehr auf eine sittliche Einstellung im zwischenmenschlichen Verhältnis, Grosszügigkeit und Freigebigkeit hingegen auf die richtige Handhabe von Geld und Besitz. Gross-zügigkeit beinhaltet Freigebigkeit, meint aber darüber hinaus „nicht kleinlich“, „nachsichtig“ und „tolerant“ gegenüber sich selbst und gegenüber anderen. Grosszügigkeit und Sparsamkeit sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Ohne Sparsamkeit wird Grosszügigkeit zu Verschwendung und ohne Grosszügigkeit wandelt sich Sparsamkeit in Geiz. Der Geizige gibt nichts, der Sparsame das Not-wendige, der Grosszügige mehr als das Notwendige und der Verschwender alles.
Der Terminus „Grosszügigkeit“ (Generosity, Génerosité) entstammt einer aristokratischen Lebenswelt. Grosszügigkeit geht auf das lateinische „generosus“ zurück, welches sich in der römischen Antike auf eine „adelige Abstammung“, das heisst auf gleichen sozialen und materiellen Stand und eine daraus entspringende grosszügige, freigebige Gesinnung bezog. Diese nannten die Römer „Liberalitas“, eine, dem freien Mann geziemende Denk- und Handlungsweise im Umgang mit Privateigentum.
In der frühen Neuzeit galten Adel und Klerus als verschwenderisch. Die aufsteigenden bürgerlichen Schichten waren genötigt, ihren Status durch Sparsamkeit und Fleiss in Abgrenzung zu feudaler Lebensführung zu erkämpfen. Nicht zufällig tauchte der Begriff „Sparsamkeit“ um das 16. Jahrhundert auf. Parallel dazu bildete sich neben der geläufigen christlich-kirchlichen Mildtätigkeit und Barmherzigkeit der Begriff „Freigebigkeit“ als wichtige Komponente des Humanismus und der Aufklärung zur gerechten Güterverteilung heraus.
Der technisch-industrielle Fortschritt und die damit verbundene Verdrängung der feudalen, christlich legitimieren Ständegesellschaft durch die nationale, säkularisierte Staatsbürgergesellschaft brachte immer breiteren sozialen Schichten Wohlstand und Besitz. Die kapitalistische Produktionsweise und Geldwirtschaft verliehen der bürgerlichen Sparsamkeit im Verständnis von Investition und Gewinn neues Gewicht. Als Kompensation zum ökonomischen Tauschsystem entfaltete sich Freigebigkeit im Sinn einer bürgerlichen, emotional angereicherten Schenkkultur. Diese war Ausdruck freundschaftlicher, familiärer und verwandtschaftlicher Beziehungen auf der Grundlage von privater Einkommenssicherung und Vermögensbildung.
Die Schaffung sozialer Sicherungssysteme als Reaktion auf die Folgelasten der Industrialisierung führte gleichsam zu einer „Demokratisierung“ des Schenkens, weil die ärmeren Schichten in den Kreislauf von Arbeit und Konsumation integriert wurden und sich folglich die Kaufkraft ungemein erhöhte. Zu Beginn des 20. Jahrhundert erschien in der deutschen Sprache der Terminus „Grosszügigkeit“ und drängte den älteren Begriff der „Freigebigkeit“ zunehmend in den Hintergrund. Das Herauswachsen der Angestellten-, Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft aus der klassischen Industriegesellschaft erforderte neue Komponenten des Umgangs mit Geld und Besitz. Die ehemals feudale Bedeutung von Grosszügigkeit im Sinne von „Loslassen“, „Verbrauchen“ und „Konsumieren“ wurde nun zur elementaren Voraussetzung für ökonomischen, technischen und zivilisatorischen Fortschritt.
Die Etablierung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates ging mit derjenigen der Wirtschaftsgesellschaft einher und führte im 20. Jahrhundert zu hochzentralisierten und standardisierten, zu verstädterten und zunehmend global vernetzten Gesellschaften. Die Symbiose von Sozialstaat und Marktwirtschaft hat das Individuum aus traditionellen, integrierenden Lebens- und Arbeitsgemeinschaften herausgelöst und auf sich alleine gestellt. Dieser „Individualisierungsschub“ bringt eine zunehmende Regulierung und Konformität der Lebens-, Arbeits- und Produktionsverhältnisse mit sich. Die „freigesetzten“ Individuen werden zu Klienten im umfassenden Sinn. Autonomie oder Selbstentscheidungsfähigkeit wird von staatlicher Seite durch einen ausufernden und reglementierenden Beamten-, Verwaltungs- und Versorgungsapparat immer starker eingeengt. Von marktwirtschaftlicher Seite werden Individuen durch kontinuierliche Kauf- und Konsumationsanreize verdinglicht, anonymisiert und instrumentalisiert.
Unter der mächtigen Allianz von Staat und Marktwirtschaft kann sich Gross-zügigkeit als Ausdruck persönlicher, moralischer wie juristischer Autonomie kaum mehr entfalten. Als Gegenreaktion auf den überlasteten Wohlfahrtsstaat, auf ökologische Probleme und auf die Veränderung tradierter Institutionen, Sitten und Werte im Zeichen der Globalisierung gewinnen Grosszügigkeit und Sparsamkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts an neuer Bedeutung.
Grosszügigkeit gedeiht am besten in kleinräumigen Gesellschaften mit grosser Verwandtschaft, Vertrautheit und sittlich-kultureller Homogenität. Das Zweckbündnis von Staat und Markt, wie es sich in Gestalt der sozialen Marktwirtschaft nach 1945 formierte, begrenzt den privaten Raum zusehends und entzieht privater Initiative, Spontanität und Freiwilligkeit den Nährboden. Eine hohe staatliche Steuerbelastung und Regelungsdichte führen in Kombination mit permanenten Konsumations-zwängen zu einer politisch-sozialen Instabilität durch Zersetzung einer Mittelstandsgesellschaft. Unter solchen Bedingungen ist die politische Formierung von extremistischen Gruppierungen lediglich eine Frage der Zeit. Die gegenwärtig noch diffus agierende „Anti-Globalisierungsbewegung“ ist ein erstes, aber deutliches Zeichen.
Grosszügigkeit und Sparsamkeit wurzeln in einer Mittelstandsgesellschaft, die keinen Überfluss und keine Armut kennt und in welcher es nach Kalkül, vorausschauender Planung und rationeller Verteilung der Ausgaben zu leben gilt. Knappheit fördert Grosszügigkeit. Weil Grosszügigkeit für den Empfangenden Verpflichtung und Schuld mit sich bringt und damit mit Macht und Herrschaft einhergeht, sind die Folgen in einer Mittelstandsgesellschaft am wenigsten gravierend. Wo „Gleiche unter Gleichen“ leben, sind Hierarchien nicht stabil, sondern situationsbedingt. Grosszügigkeit wirkt dann als sozialer Kitt und dient nicht wie im feudalistisch geprägten Mäzenatentum der Selbstdarstellung und Herrschafts-legitimierung Einzelner oder wie in der staatlichen Wohlfahrts- und Umverteilungspolitik der persönlichen Entmündigung und Abhängigkeit.
Ordnungspolitische Massnahmen zur Förderung von mehr Grosszügigkeit sind daher solche, welche auf eine Zurückdrängung der Zweckallianz von Staat und Markt in den Bereichen abzielen, wo ein stabiler Mittelstand zerrieben und damit politische Instabilität durch soziale Ungleichheit und Abhängigkeit geschaffen wird. Es gilt, non-zentrale politische Entscheidungseinheiten zu schaffen, eine Fiskalpolitik zu betreiben, welche mehr Steuerwettbewerb und mehr steuerliche Anreize zur privaten Grosszügigkeit schafft und staatliche Wohlfahrt und Umverteilung auf das Wesentliche beschränkt. Im wirtschaftspolitischen Bereich sind Märkte zu öffnen, Monopole und Kartelle zu verhindern und die sozialen und ökologischen Folgelasten der Konsumgesellschaft, wie extensiven Ressourcenverbrauch, übermässige Kreditvergabe und private Verschuldung einzudämmen.
Grosszügigkeit im Sinne von freiwilliger, zweckfreier Hilfe auf der Grundlage von persönlicher Autonomie und Würde kann den Sozialstaat nicht ersetzen. Es muss jedoch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft gefunden werden, wenn der Mittelstand als eigentlicher Träger einer freiheitlich und marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaftsordnung nicht in einem ruinösen Existenzkampf zwischen den Fronten von Staat und Markt aufgerieben werden soll.
Thesen
- Grosszügigkeit bedingt persönliche Autonomie und Privateigentum.
- Grosszügigkeit hat historisch besehen unterschiedliche Entstehungs- und Wachstumschancen. Sie gedeiht am besten in kleinräumigen Gesellschaften mit hoher Verwandtschaft, Vertrautheit und sittlich-kultureller Homogenität.
- Ordnungspoltische Massnahmen zur Förderung von mehr Autonomie und damit auch Grosszügigkeit sind solche, welche auf eine Zurückdrängung der Zweckallianz von Staat und Markt in den Bereichen abzielen, wo ein stabiler Mittelstand zerrieben und soziale Ungleichheit und Abhängigkeit gefördert wird.