Das Wort «Sezession» löst vielfach Angst aus, es wird mit Gewalt, Aufruhr oder gar Bürgerkrieg assoziiert. Die Politikwissenschaft ist bemüht, den Begriff zu vermeiden, weil er allzu schnell kontroverse Debatten auslöst. Bis heute gibt es keine allgemein anerkannte «Sezessionslehre», keine Klassifikation, die zur objektiven Analyse von Sezessionsbewegungen dienen könnte – und davon gibt es selbst in Europa nicht wenige: Spanien und das Baskenland, Grossbritannien und Nordirland, Dänemark und die Färöer-Inseln, ganz zu schweigen von den zahlreichen schwelenden sezessionistischen Konflikten auf anderen Kontinenten. Die Frage des Rechts auf Sezession sollte auch im Hinblick auf die neue europäische Verfassung geklärt werden. Die Teilnehmenden des 3. Workshops der Progress Foundation gingen der Frage nach, warum Sezessionen von der internationalen Gemeinschaft oft so unterschiedlich beurteilt werden und was man von besonders friedlichen Beispielen, wie der Spaltung der Tschechoslowakei, lernen kann.
Im Juli 2000 führte die Progress Foundation in Soazza einen Workshop unter dem aus heutiger Sicht geradezu visionären Titel «The right of secession and the emerging constitution of the European Union» durch.
Während in den ersten fünf Diskussionsrunden der rund 15 Wissenschafter und Intellektuellen klassische Texte – etwa von Johannes Althusius, Herbert Spencer oder Lysander Spooner – diskutiert wurden, war die sechste und letzte Runde einer offenen Debatte über die Idee eines veritablen Sezessionsrechts gewidmet, mit einigen Bezügen zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam. Das Protokoll, das über das Seminar verfasst wurde, hält zu dieser Idee des Sezessionsrechts unter anderem Folgendes fest:
«Some participants thought the idea dangerous (because it could inspire destabilise countries outside the EU), some thought it superfluous (because the EU has got not troops to prevent countries from leaving), but the overwhelming majority of the participants advocated a constitutional right to secession in the European constitution. This was seen as the proper antidote to the increasingly centralising tendencies in the EU – tendencies which in the long run may well undermine the freedoms Europeans enjoy today. The inclusion of a principle of subsidiarity, as it is found in the Treaties, was considered as insufficient. Secession – accompanied by generous opting out clauses in specific areas of policy – must be seen as a defence right against centralistic and discriminatory leglisation. This did not mean that any of the participants advocated actual secession. On the contrary, it was held that a right of secession, which is formally enshrined in the constitution (or treaties), may just threaten central government in a way, that less discriminatory legislation would occur. A formal right of secession would possibly make real secession less likely.»
Wer weiss, vielleicht hätten grosszügige Opting-Out-Klauseln und ein Sezessionsrecht ohne allzu viele Stolpersteine die EU gezwungen, stärker auf die Befindlichkeiten ihrer Mitgliedsländer und deren Bevölkerungen zu hören. Und vielleicht wäre es dank diesem Recht nie zu einem Ja des Vereinigten Königreichs zum Brexit gekommen. Sicher ist, dass die Progress Foundation mit der Wahl des Themas «Sezessionsrecht» ihrem Namen alle Ehre machte und der Zeit voraus war.