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In den Medien
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01.10.2017

Das antiamerikanische Jahrhundert?

Gerhard Schwarz
NZZ

Zu Zeiten Donald Trumps gehört es in Europa fast zum guten Ton, sich grundsätzlich negativ über die amerikanische Politik zu äussern. Der 45. Präsident der USA ist auf dem alten Kontinent wohl so unbeliebt wie kein anderer zuvor. Leitmedien berichten mittels Liveticker über jeden neuen Fauxpas Trumps, und mancherorts wird gar schon über den Untergang des Westens diskutiert. Ist der Westen wirklich am Ende? Brauchen sich Europa und Amerika überhaupt noch? Die Progress Foundation publizierte zu diesem Thema im Jahr 2005 das Buch «Der Westen – was sonst?», herausgegeben von Hansrudolf Kamer und Michael Zöller. Darin befassen sich diverse Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven mit der transatlantischen Partnerschaft.

Einer davon ist Ivan Krastev. Der Vorsitzende des Centre for Liberal Strategies in Sofia stellte damals die These auf, dass das 21. Jahrhundert als das «antiamerikanische Jahrhundert» in Erinnerung bleiben werde. Bisher scheint er mit dieser Prognose Recht bekommen zu haben, auch wenn seine Argumentation anderer, grundsätzlicher Natur war. Gemäss Krastev war das 20. Jahrhundert durch Amerika als Verfechter der Demokratie und des Kapitalismus geprägt. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 habe sich dies jedoch stark geändert. Der Antiamerikanismus habe weltweit zugelegt und finde seinen Ausdruck in unterschiedlichsten Formen, von terroristischen Anschlägen bis zur grundsätzlich negativen Einstellung gegenüber der amerikanischen Politik. Doch woher stammt diese Antipathie? Krastev kommt zum Schluss, dass der Antiamerikanismus «nicht von der Sorge um Amerika getrieben (sei), sondern von den inneren Widersprüchen postideologischer Politik». Die Demokratien seien heute Gesellschaften, in denen es keine klaren Feinde mehr gebe und Träume unausgesprochen blieben. Trotz Wirtschaftswachstum und Wohlstand fühlten sich die Menschen nicht glücklicher, sondern hingen Verschwörungsphantasien nach. Wegen der «Leere postideologischer und postutopischer Politik, ihrer subversiven Langweiligkeit» seien die Menschen gegen Amerika, «weil sie gegen alles sind – oder weil sie nicht so genau wissen, wogegen sie sind.»